Auch Männer gefährdet: Herr Michel und die Brustkrebs-Diagnose

Brustkrebs wird bei Männern oftmals unterschätzt. Foto: Adobe Stock / as-artmedia Brustkrebs wird bei Männern oftmals unterschätzt. Foto: Adobe Stock / as-artmedia

Laut Zentrum für Krebsregisterdaten erkranken in Deutschland jährlich rund 74 500 Frauen an Brustkrebs. Was oft nicht einmal Ärzte auf dem Schirm haben: Auch rund 700 Männer bekommen jedes Jahr die Diagnose Mammakarzinom. Ein Betroffener erzählt.

Stuttgart. Es ist der 22. April 2022. Olaf Michel aus Ettenheim (Baden-Württemberg) fährt wie jeden Freitagnachmittag Medikamente für die ortsansässige Apotheke aus – mit dem Job füllt der 66-jährige Rentner seine Urlaubskasse auf. Plötzlich spürt er ein Jucken in der rechten Brust. Er reibt über die störende Stelle und denkt: „Für einen Mückenstich ist es draußen noch zu kalt und der Knubbel zu hart.“ Olaf Michel konzentriert sich wieder aufs Fahren, hält Pläuschchen mit Kunden an der Haustüre – und vergisst zunächst das komische Gefühl in der Brust.

Doch abends im Bett wieder: ständig dieses schreckliche Jucken! Olaf Michel kratzt sich, fühlt erneut den Knubbel und ruft seiner Frau Annette, die gerade aus dem Badezimmer kommt, zu: „Da ist etwas Hartes an meiner Brust, das da nicht hingehört!“ Annette schiebt sein T-Shirt hoch, sieht die eingezogene Brustwarze, daneben den rund anderthalb Zentimeter großen Knoten, der auf der flachen Männerbrust deutlich zu erkennen ist. Sofort schießen ihr Tränen in die Augen. Sie schluckt und sagt: „Das ist Brustkrebs, die stark eingezogene Brustwarze ist ein deutliches Anzeichen.“ So erinnert sich Olaf Michel an den Schockmoment bald drei Jahren.

Laut Zentrum für Krebsregisterdaten erkranken in Deutschland jährlich rund 74 500 Frauen an Brustkrebs. Was oft nicht einmal Ärzte auf dem Schirm haben: Auch rund 700 Männer bekommen jedes Jahr die Diagnose Mammakarzinom. Und bei genauerem Hinsehen ist das gar nicht so verwunderlich: Bis zur Pubertät sind die Brüste von Mädchen und Jungen quasi baugleich. Und in diesem Brustdrüsengewebe, den Anlagen der Milchgänge, können sich bei beiden Geschlechtern Zellen verändern und zu Krebszellen werden.

Brustkrebs bei Männern: Todesrisiko höher

Laut Robert-Koch-Institut ist die Überlebensrate fünf und zehn Jahren nach einer Brustkrebsdiagnose bei Männern im Schnitt je um rund zehn Prozent niedriger als bei Frauen. Das heißt: Männer sterben eher an Brustkrebs. Und das liegt vor allem daran, dass Knoten nicht oder zu spät als solche erkannt werden. Während Brustkrebs bei Frauen nämlich durch die Einführung jährlicher Tastuntersuchungen (ab dem 30. Lebensjahr) und Mammografie-Screenings (alle zwei Jahre, ab dem 50. Lebensjahr) in über 80 Prozent der Fälle im Frühstadium erkannt wird, erfolgt die Erstdiagnose bei 40 Prozent der Männer in fortgeschrittenen Stadien. “ Gründe hierfür sind mangelndes Wissen um die Erkrankung seitens der Patienten, mit einer damit bedingten verzögerten ärztlichen Vorstellung“ , heißt es im Leitlinienprogramm Onkologie, das von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, der Krebsgesellschaft und der Krebshilfe erarbeitet wurden. Und weiter: „Darüber hinaus bestehen auch auf ärztlicher Seite Wissensdefizite.“ Forscher des Universitätsklinikums Bonn bestätigten das in einer Studie 2018: “ Vielen ÄrztInnen, TherapeutInnen und Pflegekräften fehlen Erfahrungen und Fachwissen zum Brustkrebs beim Mann.“

Das zeige sich besonders in der Phase der Diagnosestellung. Hausärzte seien die ersten Ansprechpartner und Schlüsselfiguren, wenn es darum gehe, ein Mammakarzinom zu erkennen und weitere Maßnahmen zu ergreifen. Auch niedergelassene Gynäkologen seien bei einem konkreten Verdacht geeignete Ansprechpartner – doch „teilweise besteht Unwissenheit bei GynäkologInnen in Bezug auf die Abrechnungsmöglichkeiten. Dies führt dazu, dass immer wieder Männer von GynäkologInnen abgewiesen werden.“

Olaf Michel hatte zuvor schon mal gelesen, dass Männer Brustkrebs bekommen können und geht gleich am Montagmorgen in die Frauenarztpraxis, die auch Annette besucht. “ Ich fühlte mich komisch fehl am Platz“ , erinnert er sich. Zwischen dicken Schwangerschaftsbäuchen wartet er auf die Tastuntersuchung – und er wird zum Glück ernst genommen und nicht abgewiesen. Schon nachmittags am selben Tag hat er einen Mammografie-Termin, sitzt wieder zwischen Frauen, die verdutzt dreinblicken, als der Arzt „Herr Michel“ ins Behandlungszimmer ruft. Bei der Röntgenuntersuchung wird die betroffene Brust zwischen zwei Plexiglasplatten geklemmt. „Ich war verwundert, dass das bei einer männlichen Brust überhaupt möglich ist“ , erinnert sich Olaf Michel. Ein Knoten ist auf der Röntgenaufnahme deutlich zu erkennen. Nach einer Gewebeprobe in derselben Woche im Brustkrebszentrum Südbaden in Emmendingen steht es endgültig fest: „Sie haben Brustkrebs, wir müssen so schnell wie möglich operieren.“

Als Olaf Michel diese Diagnose hört, steht er völlig neben sich, erinnert er sich. Bilder seiner sterbenden Mutter schießen ihm durch den Kopf. „Sie hatte auch Brustkrebs“ , erzählt er, „und ihr rund zehn Jahre andauernder Leidenskampf samt Chemotherapien, Bestrahlungen und immer wieder neuen Metastasen hat meine Kindheit zerstört.“ Die vielen Schläuche um ihr Krankenbett, das ständige Hoffen und Bangen, die Schreie seiner weinenden Mutter, ihr letzter Atemzug – das alles lässt ihn nicht mehr los und jagt ihm eine Riesenangst ein.

Christian Rudlowski ist Chefarzt der Frauenklinik des Evangelischen Krankenhauses Bergisch Gladbach und setzt sich seit rund zwei Jahrzehnten für eine bessere Studienlage und einen sensibleren Umgang mit betroffenen Männern ein. Weil zu wenige Daten vorliegen, würden sich Diagnose, Behandlung und Nachsorge heute noch zu starr an den Regeln für weibliche Brustkrebs-Betroffene orientieren. Rudlowski plädiert etwa für den Einsatz von hochauflösendem Ultraschall und Magnetresonanztomographie-Untersuchungen. Das sollte die erste Wahl zur Abklärung sein, da die Mammografie aufgrund der anderen Anatomie der Männerbrust an ihre Grenzen stößt. Zudem kritisiert Rudlowski, dass sich bei Männern die komplette Brustentfernung (samt Brustwarze) als Standard-Lösung etabliert hat und sagt: „Die Mastektomie ist auch für den Mann eine verstümmelnde Operation!“

Brustkrebs: Zahl der Erkrankungen nehmen mit Alter zu

Rudlowski nennt die Risikofaktoren: „Wenn Mutter, Großmutter oder Schwester bereits Brustkrebs hatten, ist das Risiko, ebenfalls zu erkranken wesentlich höher, weil Brustkrebs-Gene vererbt werden können.“ Wie bei allen Krebserkrankungen erhöht auch das Alter das Risiko. Und mit dem steigenden Alter der Bevölkerung nehmen auch Brustkrebserkrankungen bei Männern zu. Während 2014 noch rund 490 Männer in Deutschland neu erkrankten, sind es mittlerweile rund 700 pro Jahr – ein Zuwachs bekannter Fälle um 42 Prozent in zehn Jahren. Im Schnitt sind Männer bei Erstdiagnose 67 Jahre alt. Die wenigen Studien, die vorliegen, zeigen außerdem bei rund 90 Prozent der betroffenen Männer hormonelle Veränderungen wie einen zu hohen Östrogenspiegel.

Bei Olaf Michel treffen alle Risikofaktoren aufeinander. Drei Wochen nach der Diagnose wird er in einem n Krankenhausbett in den Operationssaal gerollt, wo auch ihm die gesamte rechte Brust abgenommen wird. „Angst oder Zweifel hatte ich nicht – ich war eher erleichtert, dass endlich weggemacht wird, was da nicht hingehört“ , sagt er. „Ich wollte leben!“

Alles läuft gut, und weil der Krebs noch nicht in die Lymphknoten gestreut hat, ist keine Chemotherapie geplant. Schon sieben Tage nach der OP fährt er mit Frau, Hund und vollgepacktem Campingmobil in den geplanten Urlaub nach Sankt Peter Ording. Bei langen Strandspaziergängen an der rauen Nordsee, kleinen Radtouren an windgepeitschten Dünen entlang und knusprigen Fischbrötchen erholt sich Olaf Michels Seele.

Zurück zu Hause sagt er sich: „Jetzt kann das Leben weitergehen!“ Doch dann klingelt das Telefon und sein Arzt erklärt ihm: „Der Krebs war sehr aggressiv, eine Streuung ist leider doch wahrscheinlich: Um eine Chemotherapie kommen Sie nicht herum!“ Eigentlich, sagt Olaf Michel, möchte er nicht von seiner Chemoerfahrung sprechen. „Es war schlimm, meine Haut an den Händen hat sich geschält, mein Mund war völlig entzündet, ich habe 15 Kilo abgenommen.“

Die strapaziöse Therapie hat sich gelohnt: Dem 69-Jährigen geht es heute gut. Nur die elf Zentimeter lange Narbe an seiner rechten Brust und die östrogenhemmenden Medikamente, die er täglich nimmt, erinnern noch an den Sommer, in dem Olaf Michel um sein Leben kämpfen musste. “ Zum Glück hat mein Frauenarzt zugehört und schnell gehandelt“ , sagt er, “ Ich bin so dankbar und möchte anderen etwas zurückgeben!“

Mittlerweile engagiert Olaf Michel sich im Vorstand des bundesweiten Netzwerk Männer mit Brustkrebs. Aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit und vielen Erzählungen anderer Betroffener weiß er: „Manche irren über Wochen oder sogar Monate von Praxis zu Praxis – werden abgewiesen und nicht ernst genommen.“ Der Verein möchte Bevölkerung und Experten gleichermaßen aufklären und Betroffenen bei regelmäßigen Tagungen und Patiententreffen die Möglichkeit zum Austausch bieten.

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