| Textprobe, der ganze Text auf Spiegel.de |
Als zehntes Bundesland trat das Saarland vor 65 Jahren der Bundesrepublik bei. Zuvor war es teilautonom und schickte sogar ein eigenes Team zu Olympia 1952. Der letzte lebende Saar-Olympionike erinnert sich.
Der Tag, als das Saarland die große Weltbühne des Sports betrat, begann mit einem kleinen Desaster. Zu den Sommerspielen 1952 entsandte das Saarland ein eigenes Olympiateam, am 14. Juli trafen die Delegationen im Olympischen Dorf in Helsinki ein. Zur Begrüßung veranstaltete Gastgeber Finnland eine Zeremonie: Für jede eingereiste Nation sollte die jeweilige Nationalhymne gespielt und die Flagge gehisst werden. Doch die blau-weiß-rote Saar-Fahne fehlte. Sie sei im Ablauf erst später nötig, hatte man angeblich dem Nationalen Olympischen Komitee mitgeteilt. In Saarbrücken lästerte die Öffentlichkeit sogleich: Der teilautonome Saarstaat als eigenständige Olympianation – war das alles eine Nummer zu groß?
Die Flaggenanekdote blieb eine historische Randnotiz. Die Lokalpresse berichtete vor allem über die Begeisterung, dass überhaupt 36 Saar-Olympioniken an den Titelkämpfen teilnahmen – auch Heinz Ostheimer, Jahrgang 1931, heute der letzte noch lebende Athlet. „Wir waren ja sehr froh, dass wir als eigenes kleines Land vertreten waren und uns die Weltgemeinschaft aufnahm“, sagt der ehemalige Turner. „Die Spiele zeigten, dass nicht die Größe eines Landes wichtig war, sondern dass es sich eben um ein eigenständiges Land mit einer selbstständigen Regierung handelte. So wie Deutsch-land traten wir eben als Saar-land an!“
Sonderrolle innerhalb von Europa
Bis zum 1. Januar 1957 bestand dieser dritte deutsche Staat. Vor 65 Jahren endete die politische Geschichte des teilautonomen Saarlands, das Historiker fesselt, weil es andere Konsequenzen aus der Zeit des Nationalsozialismus zog als die Bundesrepublik und die DDR. Schon die Vorgeschichte war so wechselhaft wie in kaum einer anderen Region Europas. „Nach dem Versailler Vertrag war das Saarland ab 1920 das erste Mal eine politische Einheit und nahm eine Sonderrolle ein: Es war das erste internationalisierte Territorium, das es in Europa gab“, sagt der Saarbrücker Historiker Rainer Hudemann.
Das Saargebiet, wie es nun hieß, gehörte völkerrechtlich weiter zum Deutschen Reich; die Regierung aber wurde vom Völkerbund mit Sitz in Genf eingesetzt. Frankreich bekam als Kriegsentschädigung unter anderem das alleinige Recht an den begehrten Steinkohlegruben und der Schwerindustrie.
Der Versailler Vertrag baute der Staatsform jedoch einen Absicherungsmechanismus ein: 1935 sollte die Bevölkerung bei der „Saarabstimmung“ votieren, ob sie weiter unter dem Mandat des Völkerbundes leben oder vollständig zu Frankreich oder zum Deutschen Reich gehören wollte. Die Menschen entschieden sich mit überwältigender Mehrheit für das Land, in dem Adolf Hitler seit 1933 als „Führer und Reichskanzler“ regierte.
Lesen Sie auch: NS-Opfer: Wie ein Ex-Bürgermeister neue Schicksale recherchiert
Der frühere Olympia-Turner Ostheimer, der heute in einem Seniorenheim in seiner Geburtsstadt Bexbach lebt, war damals vier Jahre alt – er hat die Zeit nicht bewusst erlebt. Kritische Stimmen, nicht in die Arme von Nazideutschland zu taumeln, gab es zuhauf. Doch Frankreichs Politik spielte den Nationalsozialisten in die Hände und verhinderte etwa, dass Arbeiter in Betrieben mitbestimmen konnten, während es in Deutschland dafür ab 1920 ein Gesetz gab. Die saarländischen Turnvereine wurden mit der Rückangliederung in die Vereine für Leibesübungen integriert und „gleichgeschaltet“. Turnvater Friedrich Ludwig Jahn lieferte den Nazis passende Motive. Vom Nazipädagogen Edmund Neuendorff stammen die Sätze: „Zurück zu Jahn, es gibt kein besseres Vorwärts!“
NS-Propaganda und SS-Exzesse
Vom Größenwahn der Nationalsozialisten war im kleinen Bexbach wenig zu spüren: „In meiner Jugend haben wir in einem Stall in Bexbach geturnt. Der war so niedrig, dass man auf dem Barren nicht einmal einen Handstand machen konnte, weil die Decke nicht hoch genug war“, erzählt Heinz Ostheimer. „Wir haben uns geholfen, indem wir die Decke einfach oben aufgeschlitzt haben.“
Besser gelang das Training an niedrigeren Geräten wie dem Seitpferd, auf das sich Ostheimer konzentrierte. Das sollte später dem Olympiateam zugutekommen: Beim Mannschaftsmehrkampf 1952 in Helsinki landeten die Turner auf dem 22. Rang. In den Einzeldisziplinen schafften es nur zwei unter die hundert Besten; Heinz Ostheimer gelang am Pauschenpferd sein stärkster Auftritt: Platz 109.
- Haben Sie Hinweise zu unseren Artikeln? Verfügen Sie über Einblicke in Bereiche, die anderen verborgen bleiben? Wollen Sie Missstände mithilfe unseres Teams aufdecken? Dann kontaktieren Sie uns gerne unter kontakt@reporterdesk.de
Im Saarland folgten mit dem Anschluss an Deutschland 1935 aber zunächst: NS-Propaganda, Judenverfolgung, SS-Exzesse. Der Weltkrieg grub die Region um. Saarbrücken, Saarlouis und Homburg lagen in Schutt und Asche. Unterdessen wuchs Ostheimers Begeisterung am Turnen. Richtig aktiv wurde er mit 18 Jahren.
Der Berg auf dem Fahrradweg zur Berufsschule war so steil, dass ich nur schwer heraufkam«, erinnert sich der 90-Jährige. „Einige Buben sind damals in den Turnverein eingetreten.“ Auch er wollte seine Kondition verbessern. „Ich habe mich vorher ein wenig als Schwächling gefühlt und dann gemerkt, wie durch ein gewisses Training eine entsprechende Leistung erzielt wird. Sicherlich, der Sport hat mich stärker gemacht, im Grunde für das ganze Leben“, sagt Ostheimer. „Für mich hat immer der Sport im Vordergrund gestanden, das Politische war eher der Rahmen drum herum.“
Dieser Rahmen verschob sich nach dem Zweiten Weltkrieg erneut. „Nach 1945 war die allgemeine Meinung in Frankreich absolut vorherrschend, dass die Saar jetzt von der Siegermacht Frankreich annektiert wird“, erklärt Rainer Hudemann. Doch Charles de Gaulle habe das ausdrücklich nicht verfolgt, wie der Historiker später aus französischen Akten herausarbeitete. Das Ziel des Regierungschefs: die Selbstständigkeit des Gebiets mit einer eigenen Verfassung in Europa zu etablieren und es zugleich wirtschaftlich und währungspolitisch an Frankreich zu binden. Diese Bindung dauerte noch bis zum Juli 1959 an.
Eine pikante Rolle spielte nach dem Krieg Ostheimers Sportart. In ihrem Buch „Die Saar 1945–1955“ schreiben die Historiker Dietmar Hüser und Bernd Reichelt: „Schwerer als andere Sportarten hatte es das Turnen, sich nach dem Krieg wieder zu etablieren. Da das deutsche Turnen von französischer Seite als militaristisch und nationalistisch angesehen wurde, hatten die Behörden das Geräteturnen untersagt.“
Erst ab 1948 war das Turnen offiziell wieder erlaubt, Turnvereine durften gegründet werden, auch in Bexbach. Dort begann Heinz Ostheimer zu trainieren. Der Saarländische Turnerbund indes mischte sich auch politisch ein, wollte das Erbe des deutschen Turnens erhalten und wehrte sich gegen den politisch gewollten Beitritt zum internationalen Dachverband Fédération Internationale de Gymnastique.
„Demokratie unter pädagogischem Vorbehalt“
Auch anderswo wuchsen Zweifel an der französischen Politik, obwohl sie europäische Ziele immer mehr in den Mittelpunkt rückte. „Zwar floriert das Saarland wirtschaftlich, doch machte die französische Regierung denselben Fehler von 1920 erneut: Sie verweigert die Mitbestimmung im Bergbau“, sagt Hudemann. Derweil verfolgte die Regierung des Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann eine harte Kontrollpolitik, Kritiker warfen ihr „polizeistaatliche Methoden“ vor. Der Historiker Armin Heinen prägte den Ausdruck der „Demokratie unter pädagogischem Vorbehalt“ als einer oft als autoritär empfundenen Politik der Umerziehung zur Demokratie.
Das alles stärkte die Opposition. Schließlich hob Frankreich seine Beziehung zur Saar auf die diplomatische Ebene: Es machte die Lösung der Saarfrage zur Bedingung für die Zustimmung zu den Pariser Verträgen, die der Bundesrepublik wieder weitgehende politische Souveränität verleihen sollten. Abermals sollten die Saarländer abstimmen: beim Saar-Referendum am 23. Oktober 1955 – ob sie dem zwischen Frankreich und der Bundesrepublik ausgehandelten Europäischen Saarstatut zustimmen. 67,7 Prozent waren dagegen. „Im politischen Kampf wurde das sogleich uminterpretiert als ein Votum für Deutschland“, sagt Hudemann.
Nach dem Urnengang stand fest: Am 1. Januar 1957 würde das Saarland zehntes Bundesland der Bundesrepublik. „Noch in der Nacht der Abstimmung rief der französische Ministerpräsident bei Kanzler Adenauer an und sagte: Wir akzeptieren das Ergebnis“, so der Historiker. Ein Satz, der die deutsch-französische Aussöhnung besiegelte.Vieles kam danach in Bewegung: Über die Saar fanden im Laufe der Sechzigerjahre französische Einflüsse ihren Weg in die Bundesrepublik und prägten Boheme wie Bürgertum. Deutsch-französische Firmen mit Sitz an der Saar vermittelten französische Küche und Weine. Französische Autos wie der 2VC wurden Teil des bundesdeutschen Alltags.
Wie Heinz Ostheimer auf diese „kleine Wiedervereinigung“ blickt? „Ich habe es nicht bedauert, dass das Saarland kein eigenes Land mehr war. Wir haben ja Deutsch gesprochen und uns auch als Deutsche gefühlt, daher wollten wir dazugehören“, sagt der Ex-Olympionike. Ihm sei es nie um die Nation gegangen, immer um den Sport.Die Höhepunkte seines Sportlerlebens hat die Familie in Fotoalben festgehalten. Eine Aufnahme zeigt den damals 20-Jährigen nach seiner Rückkehr aus Helsinki am Bexbacher Bahnhof. Der Bürgermeister schüttelt ihm die Hand, Einwohner des Ortes sind gekommen, um ihn zu empfangen. Ostheimer blickt strahlend am Fotografen vorbei, vielleicht erkennt er in der Menge seine Ehefrau, die er im Turnverein kennenlernte.
Von den 36 Sportlerinnen und Sportlern aus dem kleinen Saarland schieden in Finnland fast alle früh aus, niemand erreichte das Olympia-Podium. Auch Heinz Ostheimer nicht – aber er war dabei, da brauchte es keine Medaille. War er damals stolz? Er winkt ab, das sei ein zu großes Wort: „Nein, ich war einfach nur froh.“ LEON SCHERFIG
| Erschienen am 10. Januar 2022 auf Spiegel.de |