| Erschienen am 2. Januar 2023 |
Wie weit darf Protest gehen, wie radikal darf er sein? Die Mitglieder der „Letzten Generation“ berufen sich bei ihren umstrittenen Protestaktionen auf das Mittel des zivilen Ungehorsams. Der Ausdruck geht zurück auf den amerikanischen Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau, der sich als Protest gegen die Sklaverei Mitte des 19. Jahrhunderts weigerte, seine Steuern zu zahlen und ins Gefängnis kam. Später prägten Mahatma Gandhi und Martin Luther King den Begriff, die heute als moralische Vorbilder gelten.
Professor Robin Celikates ist Sozialphilosoph an der Freien Universität Berlin, seine Forschungsschwerpunkte sind ziviler Ungehorsam und Demokratietheorie. Im Interview spricht er über die aktuellen Proteste, die Geschichte des zivilen Ungehorsams und erklärt, warum der Klimaprotest aus Sicht der politischen Philosophie gegen bestehende Gesetze verstoßen darf.
Mitglieder der sogenannten „Letzte Generation“ sind in der Vergangenheit auf das Gelände des Flughafens in Berlin eingebrochen, bewarfen Gemälde mit Lebensmitteln, klebten sich auf der Straße fest. Sind diese Aktionen noch legitimer ziviler Ungehorsam oder schon Straftaten, die der Staat unterbinden muss?
Es gehört wesentlich zum zivilen Ungehorsam, dass absichtlich gegen Gesetze verstoßen wird. Aus juristischer Sicht handelt es sich bei den Aktionen um Rechtsbrüche wie Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, Hausfriedensbruch oder sogar Nötigung. Gleichzeitig unterscheidet sich der zivile Ungehorsam aber von gewöhnlichen Straftaten, weil er sich auf Prinzipien stützt, die zum Beispiel in der Verfassung verankert sind. Die aktuellen Proteste berufen sich etwa auf das Grundgesetz, in dem es wörtlich heißt, dass der Staat in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen schützen muss. Objektiv betrachtet kommt die Regierung dieser Verpflichtung aber nicht nach. Das spricht für die grundsätzliche Legitimität der Proteste. Die „Letzte Generation“ hat außerdem ein klares Bekenntnis zur Gewaltfreiheit abgelegt. Sie verzichtet nicht nur auf direkte Gewaltausübung, sondern versucht auch, Risiken für die Bevölkerung zu minimieren – zum Beispiel durch vorherige Absprachen mit der Polizei.
Ziviler Ungehorsam: Protestform mit langer Geschichte
…was aber offenbar nicht für alle Aktionen gilt. Immerhin stand nach Durchsuchungen einiger Mitglieder im Dezember der Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ im Raum. Sind das nicht Alarmzeichen, dass sich die Bewegung radikalisiert?
Der Vorwurf erscheint schon etwas weit hergeholt. Eine kriminelle Vereinigung muss die Begehung von Straftaten zum Hauptzweck haben. Das ist bei einer politischen Protestbewegung wie der Letzten Generation klarerweise nicht der Fall, denn der geht es darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Druck auf die politischen Entscheidungsprozesse auszuüben. Daher wundert es auch nicht, dass niemand verhaftet wurde und dass sich der Aufforderung zur Selbstanzeige Hunderte von Unterstützern der Gruppe angeschlossen haben. Der Vorwurf wird als Einschüchterungsversuch gewertet, der am zugrundeliegenden Problem nichts ändert. Repressive Reaktionen auf legitimen Protest tragen nicht zur Konfliktlösung bei, sondern riskieren, dass es zu einer Radikalisierung kommt, aber davon sind wir momentan weit entfernt.
In Ihren Augen droht also keine Radikalisierung der Bewegung?
Nein, denn es gibt keinerlei Anzeichen, dass die Grenze zum gewalttätigen Protest überschritten wird. So scheint es auch der Verfassungsschutz zu sehen. Es ist daher besonders fahrlässig, wenn vermutlich aus politischem Kalkül nun diese Grenze verwischt wird und einige Politiker oder Medien die „Letzte Generation“ kriminalisieren. Das führt schnell zu Einschränkungen des Demonstrationsrechts – also eines eigentlich besonders zu schützenden Grundrechts – beispielsweise in Bayern. Es ist fast schon ironisch: Ja, es gibt Chatgruppen, in denen zu Gewalt aufgerufen wird. Allerdings nicht im Milieu des Klimaprotests, sondern im rechten Spektrum, bei den sogenannten Reichsbürgern. Und knapp ein Viertel aller bundesweit bekannten „Reichsbürger“ lebt wiederum in Bayern. Die „Letzte Generation“ hingegen steht nicht nur auf dem Boden der Verfassung, sondern professionalisiert ihren Protest zum Beispiel mit Trainings zum Thema „gewaltfreier Protest“, in denen ihre Mitglieder lernen, wie sie mit aggressiven Reaktionen umgehen.
Werfen wir den Blick einmal zurück: Wie unterscheidet sich die „Letzte Generation“ von vorigen Formen des zivilen Ungehorsams in der Geschichte, zum Beispiel von Ghandi oder Martin Luther King?
Die heutigen Methoden sind ziemlich typische Mittel des zivilen Ungehorsams. Straßenblockaden gehören zum Etabliertesten in diesem Bereich, und selbst Museums-Aktionen gab es bereits bei den Suffragetten, die Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht in Großbritannien stritten. Auch wenn der historische Kontext bei Gandhi und Martin Luther King ein ganz anderer war, lassen sich durchaus Parallelen erkennen: Die Dynamik der Anfeindung und Delegitimierung lässt sich damals wie heute beobachten. Gandhis Protest wandte sich gegen die koloniale Unterdrückung und Ausbeutung der indischen Bevölkerung durch die Briten, Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung protestierten in Zeiten der „Rassentrennung“ für die Menschen- und Bürgerrechte der Schwarzen in den USA. Beide erscheinen uns heute als moralische Helden – und trotzdem waren sie mit Anfeindungen sogar von liberaler Seite konfrontiert und wurden als Terroristen bezeichnet. Die Kritik lautete, dass sie mit dem Protest zu stark polarisieren und damit Gewalt provozieren würden. Was diese Dynamik und auch die Mittel angeht, können heutige Bewegungen von Gandhi und King lernen.
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Inwiefern?
Zum Beispiel was Selbstdisziplin und Selbstkontrolle angeht. Von Trainings in Gewaltfreiheit haben wir schon gesprochen. Und sie haben gelernt, dass Protestbewegungen eine Spannung erzeugen müssen. Schon Martin Luther King hat gesagt, es müsse eine Krise herbeigeführt werden, um für alle sichtbar zu machen, dass wir uns bereits in einer Krise befinden. Die Krise müsse zu den Leuten getragen werden, die sie aus verschiedenen Gründen nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen. Damals wie heute geht es nicht darum, den Staat zu erpressen, sondern den Staat dazu zu bringen, dass er von den Bürgern lernt und nach besseren Antworten auf die Krise sucht.
Justizminister Marco Buschmann von der FDP sieht das offenbar anders. Er schrieb bei Twitter: „Protest ist ok, aber nur im Rahmen von Recht und Verfassung.“
In der Aussage geht einiges durcheinander. Sie ist irritierend, weil suggeriert wird, dass Protest nur legitim ist, wenn er legal ist – eben das geht an der Geschichte der Demokratie, auch in Deutschland, auch und gerade nach 1945 eindeutig vorbei. Im Gegenteil: Der Staat ist auf zivilen Ungehorsam angewiesen, um demokratischer zu werden. Die Bürger müssen sich die Frage stellen können, ob die Gesetze überhaupt legitim sind, weil wir eben nicht in einem perfekten Rechtsstaat leben. Das beschreibt auch Jürgen Habermas in einem berühmt gewordenen Essay: Der zivile Ungehorsam hält die für den demokratischen Rechtsstaat zentrale Spannung zwischen Legitimität und Legalität am Leben. Kein demokratischer Staat kann unbedingten Gehorsam fordern. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass die Bürger nicht bloße Untertanen sind, sondern sich auch jenseits des Wahlaktes und außerhalb formaler Institutionen politisch aktiv beteiligen können müssen. Habermas hat den Essay mit Blick auf die Proteste gegen Atomwaffen in den 1980ern geschrieben. Damals gab es zwar eine Mehrheit im Bundestag für die Stationierung amerikanischer Atomwaffen. Habermas hielt den Protest dagegen aber für gerechtfertigt, weil eine so existentielle Entscheidung auf viel breiterer gesellschaftlicher Basis getroffen werden müsste. Das trifft auch auf die Klimadebatte von heute zu, schließlich geht es hier um Herausforderungen, deren Tragweite kaum zu überschätzen ist. Eine demokratische, solidarische und nachhaltige Zukunft wird es ohne soziale Bewegungen, Protest und Ungehorsam nicht geben. INTERVIEW: LEON SCHERFIG