Katholische Kirche und Missbrauch: Kann ein Gesetz helfen?

Kirche Missbrauch leere Bänke Viele Kirchenbänke bleiben leer - vermutlich auch wegen des Missbrauchsskandals. Foto: S. Hermann & F. Richter / Pixabay

Die Zahl der Kirchenaustritte ist hoch wie nie – die verschleppte Aufklärung von Missbrauchsfällen dürfte einer der Gründe sein. Der Fall der Betroffenen Johanna Beck zeigt, wie Verantwortung weitergeschoben wird. Kann ein neues Gesetz helfen?

| Erschienen im Südkurier |

Anfang des Jahres wurde Johanna Becks Vertrauen in die Kirche einmal mehr erschüttert: Die Deutsche Bischofskonferenz erkannte die umstrittene Katholische Pfadfinderschaft Europas (KPE) als privaten kanonischen Verein an, eine Art Ritterschlag der Kirchenoberen. Mit der KPE verbindet die 38-Jährige eine Leidensgeschichte, die ihr Leben bis heute bestimmt. Sie beschuldigt einen Priester, der für die Pfadpfinderschaft in ihrem fränkischen Heimatort arbeitete, sie als Mädchen sexuell missbraucht zu haben. „Es hat Jahre gebraucht, bis ich das verstanden habe. Ich war damals als 11-Jährige nicht aufgeklärt.“ Die KPE habe sie mit der Idee eines über allem thronenden, strafenden Gottes eingeschüchtert. „Das hat Angst erzeugt und war hochmanipulativ“, sagt Beck heute über ihr Schweigen von damals.

Es folgten bleierne Jahre. Die Wahl-Stuttgarterin Beck verdrängte alles im hintersten Winkel ihrer Psyche, wie so viele Betroffene. Doch Anfang der 2010er-Jahre las sie Artikel über sexuellen Missbrauch an der katholischen Eliteschule Canisius-Kolleg in Berlin. Für die sogenannte MHG-Studie untersuchten Experten der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) den Missbrauch, der sich dort über Jahrzehnte ereignete. „Da habe ich verstanden: Okay, das was mir passiert ist, da steht ein System dahinter“, sagt Beck.

Johanna Beck kämpft für Erneuerung in der Kirche. Foto: Heinz Heiss/Herder

Das System Katholische Kirche mit seinen strengen Hierarchien erleidet seit den zahlreichen bekannt gewordenen Missbrauchsfällen einen bis dato nicht gekannten Vertrauensverlust. Erstmals seit Jahrhunderten ist der Anteil der Kirchenmitglieder unter 50 Prozent gesunken – eine geistliche Zeitenwende. Die Katholische Kirche verzeichnete im Jahr 2021 mit 360.000 Austritten so viele wie noch nie in einem Jahr, fast ein Drittel mehr als im bisherigen Rekordjahr 2019.

Missbrauch in Kirche: Was wenn sich niemand verantwortlich sieht?

Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) etablierten als Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal den sogenannten Synodalen Weg, ein Gesprächsformat für die Aufarbeitung. Aktuell richten die Diözesen außerdem eigene Aufarbeitungskommissionen in den 27 Bistümern ein. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart besteht diese aus Personen, die nicht im Dienst der Diözese stehen, darunter drei von der Landesregierung benannte Personen und zwei Vertreter der Betroffenen. Ähnlich aufgestellt sind die Kommissionen anderer Bistümer.


Die Kommissionen sollen nicht nur die Fallzahlen von sexuellem Missbrauch erheben, sondern auch untersuchen, wie mit Opfern und Tätern umgegangen wurde. Sie sollen herausarbeiten, ob Strukturen innerhalb des jeweiligen Bistums „sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben“.

Was aber, wenn sich kein Bistum in der Verantwortung sieht? Die Übergriffe im Fall Beck erfolgten nach eigenen Angaben in den Jahren 1994 bis 1997. Zu den Vergehen kam es Beck zufolge in den Gemeinderäumen in ihrem fränkischen Heimatort und bei Zeltlagern in der Oberpfalz und bei Rom. Als Beck vor zwei Jahren Anzeige erstatten wollte, war es nach weltlichem Recht zu spät, die Fälle waren verjährt. Sie ging in die Offensive und sagte vor der Kommission für sexuellen Missbrauch der Diözese Rottenburg-Stuttgart aus. Seitdem hörte sie: nichts mehr. „Es fühlt sich an, als hätte ich in eine Blackbox gesprochen, ins Nichts“, so Beck.

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Die Wege des Falls sind verschlungen, wie die Recherche erstmals zeigt: Das Bistum Rottenburg-Stuttgart teilt auf Anfrage zunächst mit, dass man den Fall „zuständigkeitshalber an das Bistum München und Freising vermittelt“ habe. Dort allerdings wundert man sich, weil der Fall im Verantwortungsbereich des Bistums Würzburg liege. In Würzburg wiederum heißt es: Die Frage „zum Stand der Dinge“ sei an das Diözesangericht Salzburg und den Orden der Missionare vom Kostbaren Blut zu richten. Das Diözesangericht dort behandelt zwar alle kirchlichen Streit- und Strafsachen des Bistums, doch das Erzbistum Salzburg gibt die Auskunft: Der Beschuldigte lebe in einer Niederlassung seiner Gemeinschaft, deren Obere für ihn „hinsichtlich der Tätigkeit und allfälliger Konsequenzen“ zuständig seien.

Die Gemeinschaft, das sind die Missionare vom Kostbaren Blut, ein katholischer Orden mit Sitz in Rom, der Niederlassungen in Ländern weltweit hat. Der Beschuldigte, heißt es dort, sei weiterhin Mitglied der Ordensgemeinschaft, für die Dauer des Verfahrens allerdings von seelsorgerlichen Aufgaben entbunden. Der Fall Johanna Beck sei an die Glaubenskongregation in Rom weitergeleitet worden, sagt Ferdinand Zech, der Leiter der Deutschen Provinz der Ordensgemeinschaft. „Aus Rom hieß es, dass es einen Verwaltungsprozess geben soll und wir jemanden suchen sollen, der den Prozess übernimmt“, sagt Zech. In Bayern wurden die Missionare fündig: Dort soll Pater Rafael Rieger den Fall nun beurteilen. Für weitere Auskunft bittet Zech, sich an Pater Rieger zu wenden. Der sagt, er sei Dienstleister und nicht „auskunftsberechtigt“.

Missbrauchsbeauftragte plant neues Gesetz

Inzwischen hat auch die Bundespolitik erkannt, dass die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen nicht den Organisationen selbst überlassen werden darf. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, arbeitet gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium als federführendem Ressort an einem Gesetzentwurf, um das Amt eines Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) gesetzlich zu verankern.

„Die Institutionen versagen so vielfältig, dass ich der Meinung bin, dass die Aufklärung und Aufarbeitung nicht länger dem Zufall überlassen werden darf“, betont Claus im Gespräch mit dieser Redaktion. „Solange wir den Institutionen selbst überlassen, Fälle aufzuarbeiten, hängt die Qualität einer solchen Aufarbeitung zu stark von Engagement und Willen der einzelnen Institutionen ab. Das darf nicht sein und dies erfüllt nicht die Anforderungen an Transparenz und Unabhängigkeit, die eine gute Aufarbeitung ausmachen. Hier steht der Staat in der Verantwortung“, betont Claus.


Für eine unabhängige Aufarbeitung brauche es Standards und Kriterien, die überall gelten und deren Einhaltung extern begleitet und überwacht werden, sagt die Missbrauchsbeauftragte. Auch für die Intervention im Verdachtsfall gelte: Die Abläufe müssten klar definiert sein. Sie vergleicht das mit dem Brandschutz: „Wenn plötzlich der Feueralarm losgeht, ist völlig klar, was zu tun ist – ähnlich muss das auch bei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch werden.“

Das Ziel der Missbrauchsbeauftragten: Bis zum Sommer nächsten Jahres soll das Gesetz vorliegen. Kerstin Claus macht sich insbesondere für ein gesetzlich verankertes „Recht auf Aufarbeitung“ stark. „Betroffene sollen einen Anspruch auf Akteneinsicht haben, wenn über die Fälle etwas dokumentiert wurde. Außerdem müssten diese Akten länger als bisher aufbewahrt werden, damit Betroffene auch noch viele Jahre später Zugang zu den Akten bekommen können“, sagt Claus.

Während die Wege der kirchlichen Aufarbeitung im Fall Johanna Beck unübersichtlich sind, zog immerhin die Katholische Pfadfinderschaft Europas (KPE), in der Beck früher aktiv war, Konsequenzen. „Der beschuldigte Priester hat bereits vor über 20 Jahren seine Arbeit in der KPE offiziell beendet. Unserem Wissen nach hat er seither keinerlei Aufgaben in der KPE mehr wahrgenommen“, heißt es auf Anfrage. Die KPE habe neue Beschwerdewege und Beratungskontakte erarbeitet und ein neues Schutzkonzept erstellt. Man habe, nachdem Beck die Vorwürfe öffentlich machte, den „Sachverhalt bei der Polizei zur Anzeige gebracht“, doch das Verfahren sei wegen Verjährung eingestellt worden.

Mit Blick auf die bisherigen Fälle von sexualisierter Gewalt sagt die Missbrauchsbeauftragte Claus: „Ein Recht auf unabhängige Aufarbeitung ist wichtig, damit Institutionen auch bei verjährten Fällen Verantwortung übernehmen und Betroffene das Recht bekommen, dass die Taten sichtbar werden, weil wenigstens heute hingesehen wird, wo damals vertuscht, beschwiegen und weggesehen wurde.“


In den Klageliedern des Alten Testaments heißt es: Gut ist es, sich in Geduld zu üben und still zu warten auf die Hilfe des Herrn (3,26). Johanna Beck hat das Vertrauen in die Kirche noch nicht verloren, sagt sie, sie glaube, dass sich die alte Institution erneuern könne. Allerdings: Still warten will sie nicht mehr. LEON SCHERFIG

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