DEPRESSIONEN BEI BERUFSMUSIKERN

Tabu im Orchester – „Sprechen darf man darüber nicht“

Orchester Depression Therapie Burnout Der Druck im Orchester kann für Musiker zu hoch werden. Foto: StockSnap / Pixabay

In den großen deutschen Orchestern treffen hochspezialisierte Individualisten aufeinander. Der Konkurrenzdruck ist enorm, die Angst zu versagen groß. Das belastet die Psyche vieler Berufsmusiker – doch kaum jemand spricht darüber. Genau dort setzen sogenannte Musikerambulanzen an. Nicht selten greifen die Musiker zu Medikamenten oder noch drastischeren Mitteln.

Hamburg. Diskretion gehört zum Geschäft. Kein Schild an dem restaurierten Fachwerkhaus in Hamburgs Innenstadt weist auf die spezielle Praxis im ersten Stock hin. Der Eingang liegt versteckt in einem Innenhof. Patienten wie Herbert M., Solo-Oboist in einem großen Symphonieorchester (Name und Instrument wurden geändert), schätzen die Anonymität. Denn die Branche ist klein. Und wer unter psychischen Problemen leidet, will das nicht auf der großen Bühne verhandeln. Die Musikerambulanz in Hamburg gehört zu einer kleinen Zahl von Angeboten in Deutschland, die Tonkünstlern bei ihren hochspezifischen Leiden helfen. „Wie in kaum einer anderen Berufsgruppe ist die Tätigkeit des Berufsmusikers mit dessen Persönlichkeitskern verknüpft“, sagt Heidi Brandi, Psychologin und Leiterin der Einrichtung in Hamburg. Schließlich starten Laufbahnen im frühen Kindesalter und führen über mühsam erkämpfte Wettbewerbe und ungezählte Probespiele bis in den Orchestergraben.

Auf dem Gebiet der Musikermedizin rückten in den vergangenen Jahren neben körperlichen Verschleißerscheinungen wie Sehnenüberlastungen, Arthrosen und der Musiker-Dystonie (neurologische Bewegungsstörung) die psychischen Belastungen in den Fokus. Das hat gute Gründe: Forscher der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und des Freiburger Instituts für Musikermedizin gehen davon aus, dass die besonderen Anforderungen von Berufsmusikern zu noch größeren psychischen Problemen führen als in der Gesamtbevölkerung. Allein: Es spricht kaum jemand darüber.

„Viele Orchestermusiker kommen zunächst mit einem körperlichen Leiden, und später stellt sich heraus, dass sie auch mit Auftrittsangst oder anderen psychischen Belastungen kämpfen“, sagt die Praxis-Leiterin Brandi. Sie sitzt auf einem der beiden Sessel im Therapieraum, auf dem Tisch eine Vase mit Margeriten und Gladiolen, darunter eine Box mit Taschentüchern. Die „Ambulanz“ besteht aus fünf Psychotherapeuten und Spezialisten für Physiotherapie, Osteopathie und andere physiologische Techniken. Sie arbeiten mit externen Fachleuten zusammen, die Erfahrung mit Musikern haben: Orthopäden, Ergotherapeuten, Neurologen, Psychiatern, Logopäden, Zahnärzten, Internisten und Handchirurgen.

„Wir übernehmen oft eine Lotsenfunktion. Uns ist wichtig, dass die Fachleute auch wirklich versiert in der Behandlung von Musikern sind“, sagt Brandi. „Denn wenn nur Schmerzmittel oder Betablocker verschrieben werden, kann das Probleme verschärfen“, betont sie. Zweimal im Jahr veranstaltet die Ambulanz daher Fortbildungen für Ärzte, auf denen Musiker sprechen.

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Auf Empathie im Kollegenkreis kann man nicht bauen

Schmerzmittel halfen dem Oboisten Herbert M. (52) nicht weiter, der als Bläser eine exponierte Stellung im Ensemble hat. Ihn zermürbten die ständigen Wechsel zwischen Anspannung und Ruhephasen auf Konzertreisen. Erst Mozarts Oboenkonzert KV 314 (Stücktitel geändert), auf der großen Bühne, das Hochgefühl beim Applaus, dann das stille Hotelzimmer; immer wieder stürzte er in depressive Dunkelheit: „Auf Empathie im Kollegenkreis kann man nicht bauen. Wer von Problemen spricht, ist schnell erledigt“, sagt M. In Therapiegesprächen in der Musikerambulanz habe er „Überlebensstrategien“ gelernt; mentale Techniken, autogenes Training und ganz entscheidend: die Belastung für sich zu akzeptieren.

„Beschwerden werden oft mit Kompetenzmangel gleichgesetzt. Das liegt an der Sozialisation. Professionelle Musiker nehmen den Zwang zur Fehlerlosigkeit quasi mit der Muttermilch auf“, sagt die Psychologin Brandi. Das Diktat zur Perfektion münde häufig in Medikamenten- und Alkoholmissbrauch. „Arzneimittel wie Betablocker haben dem Trinken allerdings den Rang abgelaufen“, sagt Brandi. Auch dort tun sich Ängste auf, weil Patienten befürchten, dass Medikamente ihr Spiel beeinträchtigen.

An der Wand des Therapieraums hängt ein Plakat, das ein weiteres Angebot der Praxis bewirbt: Bühnenpräsenztraining gegen Lampenfieber. Das Haus will ganzheitlich unterstützen. „Im Kern gehe es darum, die Resilienz der Musiker zu stärken, also die psychische Widerstandsfähigkeit“, sagt Brandi. Darin liegt naturgemäß ein Dilemma. Denn die Sensibilität und Emotionalität ermöglichen dem Künstler ja erst, die musikalischen Hochleistungen zu erbringen. „Der echte Musiker hat einen Leidensdruck und ist immer nah an der Rampe zur Depression“, sagt die Psychologin.

Und auch der Selektionsdruck, um in ein Orchester zu kommen, treibt viele an ihre Belastungsgrenzen. Johannes R. (27), Klarinettist (Name und Instrument geändert), hat eine befristete Stelle in einem Symphonieorchester. „Sobald es beim Vorspielen um Verträge geht, schaltet sich im Kopf etwas um: Man hat den Eindruck, dass man mehr verlieren als gewinnen kann“, sagt R.

Einige Orchester laden zu Probespielen für Bläser ein, lassen die Stelle über Jahre unbesetzt und behelfen sich mit erfahrenen Aushilfen, weil sich die Zusammenarbeit bewährt hat. Wer es schafft, wie R., der muss sich durch ein Jahr Probezeit spielen. „Man kann auch scheitern, wenn man hervorragend spielt, aber menschlich nicht in das Orchester passt“, sagt der Klarinettist. „Ständig wird an einem gezogen und man läuft Gefahr, sein eigenes Spiel zu verlieren, weil man in das Raster passen muss“, sagt er. Am Ende stimmen die Mitglieder des Orchesters ab, anonym, eine Begründung braucht es nicht.

Weniger als ein Fünftel aller Musiker fühlt sich auf den Beruf vorbereitet

Dieser darwinsche Selektionsdruck rührt daher, dass Orchester meist ein Bündnis auf Berufslebenszeit sind. Die Stellen auf dem Olymp sind begrenzt: Es gibt laut Deutscher Orchestervereinigung 129 professionelle Orchester mit 9766 Planstellen. Das sind zwar deutlich mehr als in anderen europäischen Ländern, doch ist die Zahl der Hochschulabsolventen ungleich höher. Und wer sein Leben daran ausrichtet, auf höchstem Niveau zu spielen, begnügt sich nicht so schnell mit einem PlanB.

„Die hohe Verbreitung von Beschwerden bei Musikern zeigt, dass mehr Prävention nötig ist“, sagt Professor Eckart Altenmüller, Forscher auf dem Gebiet der Neuropsychologie von Musikern. Das werde auch in Umfragen deutlich, nach denen sich nur siebzehn Prozent der Orchestermusiker ausreichend auf den beruflichen Alltag vorbereitet sehen. Das will das Freiburger Institut für Musikermedizin ändern. „Wir entwickeln gerade ein Modul Kommunikationskompetenz, in dem unsere Studierenden lernen, richtig mit den besonderen Anforderungen in einem Orchester umzugehen“, sagt Professorin Claudia Spahn, eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Musikermedizin und gemeinsam mit Bernhard Richter Leiterin des Instituts, das an der Hochschule für Musik Freiburg und dem dortigen Universitätsklinikum ansässig ist. „Wir wollen ihnen auch beibringen, den Mut aufzubringen, Missstände klar zu benennen und über eigene Probleme zu sprechen“, sagt Spahn.

Wie existentiell ein transparenter Umgang mit Belastungen im Extremfall sein kann, zeigt der Fall des im Sommer 2015 gestorbenen Bratschers Friedemann Weigle. Das Mitglied des berühmten Artemis Quartetts litt unter Depressionen. Nach seinem Suizid, der seine Ensemblekollegen so stark traumatisierte, dass das Quartett – wie kürzlich ein bewegender Dokumentarfilm von Hester Overmars schilderte – heute nur in völlig veränderter Besetzung weiterspielen kann, riefen Freunde und Familie die Friedemann-Weigle-Stiftung ins Leben. Sie will über die Risiken von psychischen Erkrankungen bei Musikern aufklären, weil eben auch im Innenleben von Musikern Dur und Moll oft nahe beieinanderliegen. LEON SCHERFIG

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