Kaum eine Branche, kaum eine Firma, in der die Frage nach der Klimaneutralität nicht zumindest in Ansätzen diskutiert wird: Wenig Beachtung kommt in Deutschland bislang der Veranstaltungsbranche zu, insbesondere der Kulturbranche. Neben Museen stoßen vor allem Orchester große Menge von CO2 aus. Einige Projekte wollen das nun ändern.
Berlin. Will Markus Bruggaier beschreiben, was das Ansinnen seines Orchesters ist, spricht er über den Untergang der Titanic: Als das damals größte Schiff der Welt mit dem Eisberg kollidierte und in der ruhigen, fast geräuschlosen See verschwand, spielte die Bordkapelle laut Augenzeugenberichten noch fast, bis sich der Nordatlantik den Koloss ganz einverleibt hatte – um die Passagiere zu beruhigen. „Allerdings gibt es glücklicherweise einen Unterschied: Wir sehen den Eisberg kommen und wollen umsteuern, bevor es zu spät ist.“
Der Hornist an der Staatskapelle Berlin zählt zum wachsenden Kreis von Kulturschaffenden, die sich für Klimaschutz in der Orchesterbranche einsetzen. Nach der Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen, deren Ergebnisse er frustrierend nennt, gründete er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Staatskapelle Berlin den Verein „Orchester des Wandels“. „Wir veranstalten seit gut zehn Jahren Klimakonzerte, deren Erlöse in ein Aufforstungsprojekt in Madagaskar fließen“, erklärt der Musiker. Das Holz der Ebenholzbäume dort ist so begehrt wie bedroht: Denn durch die hohe Dichte eignet es sich besonders für Griffbretter von Instrumenten, vor allem für Gitarren, aber auch für Geigen.
„Inzwischen sind neunzig Prozent der Wälder dort zerstört. Und das schadet nicht nur dem Instrumentenbau, sondern auch dramatisch dem Klima“, sagt er. Die Berliner Initiative strahlte aus: Inzwischen haben sich 25 Orchester in Deutschland in dem neugegründeten Verein „Orchester des Wandels Deutschland e.V.“ zusammengeschlossen und unterstützen ein neues Madagaskar-Projekt mit einem Betrag von mindestens tausend Euro jährlich, für wenigstens zehn Jahre, um dort neue Bäume zu pflanzen. Außerdem fördern sie noch weitere internationale und regionale Initiativen.
Drehen an der grünen Schraube
Das „Orchester des Wandels“ ist eines von zahlreichen Projekten in Deutschland, das Klimaschutz und Kulturbranche in Einklang bringen will. Viele Veranstalter werben bereits damit, dass sie ihren CO-Abdruck kompensieren, indem sie Umweltprojekte weltweit fördern. Das „Orchester des Wandels“ hat auch einen detaillierten Leitfaden entworfen, wie Ensembles ihre Emissionen vor Ort oder auf Reisen verringern können. Das Thema CO-Reduktion wirft allerdings auch Fragen auf, die am Selbstverständnis der Branche rühren: Wie sollen öffentlich finanzierte Orchester künftig ihren Kulturauftrag erfüllen, wenn Fernreisen die CO-Bilanz belasten? Wie können Gäste für eine klimafreundlichere Anfahrt sensibilisiert werden? Je nachdem, wen man fragt, fallen die Antworten unterschiedlich aus. Und es ist viel in Bewegung.
Dafür steht als Beispiel auch ein Pilotprojekt der Kulturstiftung des Bundes, die im Juni ihre Ergebnisse veröffentlichte. Neunzehn Theater, Museen, Bibliotheken und Konzerthäuser haben dafür ihre Treibhausgasemission für das Jahr 2019 evaluiert – allerdings waren aus dem Bereich Musik nur zwei Häuser dabei. Darunter brachte auch die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen ihren CO2-Ausstoß auf den Prüfstand. „Wir wollten eine erste, richtige Bilanz erstellen, um zu schauen, wo die Emissionstreiber sind, und wegkommen von der Symbolpolitik, die in dem Bereich oft betrieben wird“, sagt Intendant Beat Fehlmann. Das Team um den Verwaltungsleiter Clemens Keller wälzte Dokumente der Buchhaltung, fasste Stromrechnungen zusammen, trug die Anreisen von eingeladenen Dirigenten, Solisten, Künstlern zusammen. Weil es sich bei der Philharmonie um ein klassisches Reiseorchester handelt, schlugen die Flugreisen mit 170 .000 Kilometern zu Buche. Zusammen mit Bus und Bahn beliefen sich die CO2-Kosten für Reisen auf knapp fünfzig Tonnen CO2 im Jahr. Im Jahr 2019 verursachte das Orchester nach den Berechnungen insgesamt rund 618 Tonnen CO2.
Eine Erkenntnis lautete: Reisen inklusive der Übernachtungen machten einen überschaubaren Anteil von knapp zwölf Prozent aus. Mehr als 64 Prozent sind hingegen auf Konzertsäle und die Anreise der Besucher zurückzuführen. „Uns bestärkt das auch auf unserem Weg, künftig konsequent auf LED-Beleuchtung zu setzten und andere Projekte voranzubringen“, sagt Fehlmann. Schon vor einigen Jahre führte die Philharmonie zum Beispiel ein sogenanntes Kombiticket ein: Wer eine Konzertkarte kauft, erwirbt automatisch einen Fahrschein für den öffentlichen Nahverkehr. Ähnliche Projekte dürften flächendeckend eine immer größere Rolle spielen. „Ich rechne damit, dass zukünftig die nachhaltige Verwendung der Ressourcen ein Förderkriterium für Orchester in Deutschland sein könnte“, sagt Fehlmann. Am Ende des Jahres könnte zum Beispiel ein Bericht der Häuser über CO2-senkende Maßnahmen stehen.
An der grünen Schraube drehen will auch der Dirigent Vladimir Jurowski. Er steht am Pult im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks in Berlin. Vor ihm versinkt der Flügel mit der Hebebühne im Boden. Die Probe ist beendet. Der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) engagiert sich schon lange für den Klimaschutz. Die Spielzeit 2018/2019 stellte er unter das Motto „Der Mensch und sein Lebensraum“ und hob Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ ins Programm. Vergangenen Sommer erschien die CD dazu. „Das Stück kann man mit Sicherheit auch ökologisch deuten, auch wenn es von Mahler seinerzeit nicht so gemeint war“, sagt der in Moskau geborene Jurowski. Der Unterschied zum Jahr 1909, als Mahler den Liederzyklus komponierte, sei, dass heute jedes Ereignis mit globaler Bedeutung aufgeladen sei. „Heute leben wir in einer Art planetarem Kiez, in dem jeder Waldbrand in Sibirien oder Kalifornien uns auch betrifft“, meint Jurowski. Wenn nun noch die letzte Chance, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, vertan werde, würden „uns das unsere Kinder nicht verzeihen“.
Die Geburt seiner Kinder sei daher auch eines der Motive für sein Umweltengagement. Welche Konsequenzen daraus für seine Arbeit erwachsen? Seine Aufenthalte für die Leitungen zweier Orchester in London und Moskau, wo er früher ein- oder zweimal im Monat hinflog, lässt er mittlerweile ruhen. In Deutschland wünscht er sich mehr Ambitionen beim nachhaltigen Musizieren. „Leider sind andere Länder schon sehr viel weiter als Deutschland, wenn es um Klimaneutralität von Orchestern geht“, kritisiert Jurowski. Die Non-Profit-Umweltagentur Julie’s Bicycle legte zum Beispiel in Großbritannien gemeinsam mit der Association of British Orchestra (ABO) schon im Jahr 2010 eine Studie vor, in der sie auflistete, wo Orchester am besten CO2-Emission einsparen können.
Der Leitfaden gibt elaborierte Ratschläge: Wärmesensoren in Sälen, die messen, welche Plätze überhaupt besetzt sind und wo also geheizt werden muss; Bewegungssensoren in Umkleiden und Badezimmern, um den Stromverbrauch für Licht zu minimieren; Gäste-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr, die schon in den Buchungsprozess der Konzertkarten eingebunden sind – die Liste lässt sich noch mit diversen Hinweisen zur Lichttechnik im Saal, Isolation der Gebäude und Reisearten der Orchestermusiker erweitern.
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Aktionistische Symbolpolitik?
Eine Studie in Großbritannien untersuchte ebenfalls bereits im Jahr 2010, wie groß der CO2-Ausstoß in der Musikbranche in den einzelnen Bereichen ist: Drei Viertel der Emissionen, geschätzt rund 400 .000 Tonnen Kohlendioxid im Jahr, entfallen auf Konzerte (nur etwa ein Viertel auf die Musikproduktion von CDs und deren Vertrieb). Im Jahr 2012 verpflichtete der britische Orchesterverband alle Mitglieder zur „Green Charter“ und dazu, bei Reisen und Konzerten den Klimaschutz immer mit einzubeziehen. Eine ähnliche bundesweite Studie würde sich Jurowski auch in Deutschland wünschen, doch sie fehlt bislang.
Andere gehen deutlich härter vor. Ein Extrembeispiel ist das schwedische Konserthus Helsingborg. Seit der Saison 2020/21 sind alle Dirigenten und Solisten von außerhalb aufgefordert, nur noch per Zug oder Schiff anzureisen. Aber ist das wirklich ein Modell für die Zukunft oder aktionistische Symbolpolitik?
„Mit einer solchen Schaufenster-Aktion wird natürlich eine Reihe von Künstlern ausgeschlossen, die sich eine solche Anreise wegen anderer Engagements zeitlich nicht leisten können“, sagt Marcus Bosch, der Vorsitzende der GMD- und Chefdirigentenkonferenz. Marketing müsse von sinnvollen Vorhaben unterschieden werden. Auf der GMD-Konferenz am 31. Oktober sollen daher auch Themen der Nachhaltigkeit wie grüne Stromversorgung in den Theatern und Konzerthäusern besprochen werden. Bosch sieht zudem große Chancen in der Regionalisierung der Orchesterbranche: „Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft eine stärkere Anbindung des Orchesters vor Ort ans Publikum brauchen.“ Auch wenn die Kunst international bleiben sollte, sei die Frage, ob für eine Woche der Flug nach New York wirklich sein müsse, betont Bosch.
Bruggaier vom „Orchester des Wandels“, begründet sein Engagement auch damit, dass es künstlerische Aufgabe sei, diese „grüne Transformation“ mitzugestalten. „Marcel Reich-Ranicki soll ja gesagt haben, dass es in der Kunst nur zwei Themen gebe: die Liebe und den Tod. Heute müssen wir wohl die Transformation noch hinzunehmen“, sagt Bruggaier. Auch für das Geschäft könne diese Vorteile haben. Denn in Zeiten, in denen die Konzerthäuser bei Weitem nicht mehr ausabonniert sind, sei der Blick auf das jüngere Publikum wichtig: Und das trifft Entscheidungen zunehmend auch vor dem Hintergrund, ob eine Veranstaltung gut fürs Klima ist – oder eben nicht. LEON SCHERFIG