STUDIERENDE IN DER KRISE

Orchesternachwuchs: Abschiede ohne Applaus

Orchester Nachwuchs Corona Viele Musikstudierende bangen in der Corona-Krise um ihre Zukunft. Foto: Albrecht Fietz / Pixabay

Der Dauerlockdown zwingt eine ganz Branche in die Knie: Ein Fünftel der Nachwuchsmusiker will laut einer Studie den Beruf aufgeben. Das sind die Zahlen. Was aber macht das mit einem jungen Menschen, der seit dem Kindesalter am Instrument ist und beinahe sein ganzes Leben an der Musik ausgerichtet hat? Wir haben einige Nachwuchsmusiker ihre Geschichte erzählen lassen. Sie berichten von Frust, Unsicherheit – und Befreiung.

Berlin. Schmid, Ludwig, Enlin: Fast zwei Dutzend Namen sind in das glänzende Holz des Barockcellos von Marieke van Dijk [Name geändert, d. Red.] eingeritzt. Außerdem Jahreszahlen, zum Beispiel 1817, 1819, 20–24. Das historische Instrument stammt vermutlich aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, sagt die junge Musikerin. „Mein Cello hat Napoleon überlebt und zwei Weltkriege.“ Sie lächelt traurig. Die Cellistin kam aus den Niederlanden nach Bremen, „weil Deutschland das Land der klassischen Musik ist“, wie sie sagt. Nun muss sie hier ihren Traum begraben; Corona hebt ihr bisheriges Leben aus den Angeln.

Die Dreißigjährige spielt seit ihrem fünften Lebensjahr Cello – jeden Tag im Musikunterricht nach der Schule, dann Proben am Wochenende im Streichquartett, sie übt sechs Stunden oder mehr am Tag. Die hochtalentierte Cellistin macht ihren Bachelor in Norditalien, das Master-Studium der Alten Musik in Bremen. „Eine Pandemie kommt sicher für niemanden zu einem guten Zeitpunkt, in meinem Fall ist das Timing aber besonders schlecht.“ Im Frühjahr werden verschobene Konzerte erneut verschoben, schließlich ganz abgesagt; das Frühjahrs-Konzert des Kammerorchesters mit Musik von Haydn, die thematische Beethoven-Woche im Februar, die Matthäus-Passion zu Ostern. „Das war der Moment, in dem mir klar wurde: Das Spiel ist aus für mich“, sagt sie und muss um Fassung ringen. Es fehlt an Bühnen, Perspektiven – und damit auch am Geld. Die junge Frau will in Belgien jetzt einen Studiengang aufnehmen, mit dem sie schnell Geld verdienen kann, nebenher im Supermarkt arbeiten. Sie spielt sogar mit dem Gedanken, ihr Cello zu verkaufen.

„Konkurrenzkampf wird härter ausfallen“

Die Corona-Krise bedroht die Perspektive Hunderter Nachwuchsmusiker. Wer schon vorher zweifelte, gibt nun angesichts der fast ein Jahr andauernden kulturellen Eiszeit womöglich ganz auf. Der Deutsche Musikrat führt gemeinsam mit dem Zentrum für Kulturforschung derzeit eine der ersten großen repräsentativen Datenerhebungen zu der Frage durch, wie Corona die Musikbranche deutschlandweit verändert. Sie läuft noch bis Ende Februar. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen: Rund zwanzig Prozent der Befragten denken ganz konkret darüber nach, den Beruf zu wechseln. „Wir können schon beobachten, dass die Verunsicherung so groß ist wie noch nie, vor allem bei Menschen, die kurz vor dem Abschluss stehen oder vor dem Eintritt ins Berufsleben“, sagt Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates, dieser Zeitung. Für die Studie wurden bisher mehr als zweitausend Berufsmusiker aus allen Bereichen befragt.

Wer ins Orchester strebt, steht vor ganz besonderen Hürden, wie Gerald Mertens von der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) beobachtet: „Ein Problem für viele Nachwuchsmusiker ist, dass derzeit keine Ausbildung in Orchesterakademien und kaum Probespiele bei den Orchestern stattfinden können“. Die rund 42 Orchesterakademien mit ihren etwa fünfhundert Plätzen gelten als wichtige Ausbildungsstätten zwischen der Musikhochschule und der Orchesterpraxis. „Dieses ganze System ist durch die Pandemie unter die Räder geraten“, hat Mertens beobachtet. „Im Nachhinein muss man sagen: Leider sind wir alle naiv gewesen: Anfangs dachte man, die Situation bleibt vielleicht zwei, drei Monate. Nun hängen wir da schon ein Jahr drin.“ Besonders prekär sei die Lage für Studierende, die kein finanzielles Polster haben.

Im Umfeld von Musikhochschulen, Lehrstätten und Nachwuchsorchestern ist nach dem verlängerten Lockdown häufig ein Wort zu hören, das in der politischen Diskussion wie ein Mantra wiederholt wird: die „Öffnungsperspektive“. Mangelnde Aussicht auf einen normalen Spielbetrieb, finanzielle Nöte und der Zweifel, den nicht wenige angehende Berufsmusiker lautlos mit sich herumtragen, ergeben ein gefährliches Gemisch. Eine große Verunsicherung unter den Studierenden beobachtet auch Matthias Schröder von der Hochschule für Musik Detmold: „Während Orchesterangestellte unter die Kurzarbeiterregelung fallen, sind die Überbrückungshilfen für Studierende nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Sie belaufen sich auf maximal fünfhundert Euro im Monat. Die Anträge seien zudem kompliziert und müssten jeden Monat neu gestellt werden. Ausländische Studierende mit Sprachbarrieren hätten hiermit Probleme. Viele der Mittel, befürchtet er, würden daher nicht abgerufen. „Der Konkurrenzkampf wird künftig deutlich härter ausfallen, wenn endlich wieder Probespiele für Orchester stattfinden und die Orchesterakademien öffnen“, erwartet der Professor für Musikmanagement.

Viele verfolgen einen Plan B

Die Cellistin und Studentin Karolin Spegg kennt den wachsenden Druck aus eigener Erfahrung. „Im Sommer habe ich bei einem der wenigen Probespiele, die es damals noch gab, mitgemacht. So etwas hatte ich noch nicht erlebt: Normalerweise gibt es immer einige, die nicht antreten – dieses Mal waren restlos alle eingeladenen Bewerber da“, erinnert sich die Fünfundzwanzigjährige. Sie ist Mitglied der Jungen Deutschen Philharmonie, die hochtalentierte Musikstudenten zusammenbringt. Das vergangene Jahr begann verheißungsvoll, alles deutete auf einen Konzert-Marathon hin, der ihr viele Chancen eröffnen würde: das Neujahrskonzert in der Alten Oper Frankfurt, die große Konzerttournee im Frühjahr mit dem Ensemble Modern, das selbstentworfene interdisziplinäre Beethoven-Projekt, mehrere Tourneen mit dem SWR-Sinfonieorchester und Händels „Alessandro“ im E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg. Fast alle Pläne verpufften. „Ich befürchte, dass das richtig schlimme Erwachen erst noch kommen könnte. Wenn einige Orchester Stellen kürzen oder Ensembles ganz aufgeben.“

Die Pandemie schickt die gebürtige Freiburgerin in den Wartemodus: Obwohl sie das Masterstudium fast beendet hat, will sie sich gemeinsam mit ihrem Streichquartett für einen weiteren Master bewerben. „Das gestaltet sich aber auch zäh. Vieles findet über Video statt. Außerdem ist der Andrang an den Musikhochschulen viel größer, weil viele ihr Studium, solange es geht, verlängern wollen“, sagt die Nachwuchsmusikerin. In Ihrem Umfeld gebe es einige, die nach einem „Plan B“ suchten. Nicht selten höre man fatalistische Sprüche wie: „Dann werde ich eben Krankenschwester oder Pfleger oder mache ein Café auf.“

Offen bleibt zunächst, wie viele Studierende auf diese Worte auch Taten folgen lassen. Sicher ist aber: Zumindest ein Teil des Nachwuchses verabschiedet sich von der Musik als Beruf, noch bevor die Karriere begonnen hat. Sie nehmen Abschied ohne Applaus. Einige Musikerinnen und Musiker ziehen aus der Ausnahmesituation aber auch Energie und bringen ihr Leben auf eine neue Spur.

Warnung vor kulturellen Langzeitschäden

Davon berichtet Anton Borderieux. Der in Hamburg lebende Trompeter steuerte auf eine Laufbahn als Orchestermusiker zu, spielte schon zwei Jahre an der Staatsoper der Hansestadt. „Die Corona-Situation hat mir im Grunde auch eine Last von den Schultern genommen“, sagt der Neunundzwanzigjährige. „Vorher hatte ich nie einen Plan B und ließ diesen Gedanken auch gar nicht wirklich zu.“ Nun sortierte er sich neu und stellte fest: Es gibt da noch eine Welt neben dem Orchester. Zweifel schlugen um in eine neue Überzeugung: Er wollte etwas anderes machen. „Ich entschloss mich, die Musik in kleineren Dosierungen in meinem Leben zu halten“, sagt Borderieux. Die Trompete wird er immer wieder zur Hand nehmen, doch dazwischen greift er zu Büchern: Er studiert nun Psychologie.

Dass die Pandemie gerade im sensiblen Moment der Berufswahl die Lebensplanung junger Menschen durcheinanderwirbelt, wirft Fragen auf: Welche Folgen hat es für deutsche Orchester, wenn sich solche Biographien häufen? Wie verändert sich die Konzertlandschaft? Matthias Schröder von der Musikhochschule in Detmold sieht die Konzertbranche vor radikalen Umbrüchen und warnt vor kulturellen Langzeitschäden. „Wir können davon ausgehen, dass die öffentlichen Haushalte massiv sparen müssen und damit Stellen in Orchestern, Theatern und Kultureinrichtungen wegfallen werden“, sagt er. Er sieht weniger große Namen wie die Berliner Philharmoniker oder die Elbphilharmonie bedroht, sondern eher die kleineren kommunalen Orchester. Das erwartet auch Christian Höppner vom Deutschen Musikrat. „Da sind viele Kulturschaffende wie Seismographen, die Stimmungen sehr sensibel aufnehmen und auf die eigene Berufsperspektive skalieren.“ Ohne einen Plan könnte es daher vielen ergehen wie der jungen Cellistin aus den Niederlanden, die der klassischen Musik wegen nach Deutschland kam und nun weiterzieht. Ihr fehlte die Perspektive und sie nahm deshalb Abschied im Stillen. LEON SCHERFIG

| Erschienen 18. Februar 2021 im Feuilleton |

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