Umsatzeinbußen, Vorverkaufsrückgänge, Platzbeschränkungen: Schon jetzt kämpfen die deutschen Kultureinrichtungen mit den Folgen der Pandemie. Die Stimmung pendelt aktuell in vielen Häusern zwischen großer Sorge, Unverständnis und Enttäuschung.
Hamburg. Wenn im Dezember das Mariinsky-Theater aus St. Petersburg in Baden-Baden gastiert, so es die Pandemie noch zulässt, wird der Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa viel Aufwand betreiben müssen: Mehr als 250 Künstler reisen mit einem Charter-Flugzeug an, Trucks befördern das Bühnenbild. Aber im zweiten Corona-Winter braucht es zudem eine lückenlose Teststrategie für das Zehn-Tage-Gastspiel, denn die Künstler aus Russland sind mit dem Impfstoff Sputnik geimpft, den die Europäische Union nicht anerkennt. „Sie müssen vor der Ankunft getestet werden, im Hotel getestet werden, während der Proben getestet werden und zu den Aufführungen getestet werden“, so Stampa. Gleiches gelte für das Bühnenpersonal, eine organisatorische Herkulesaufgabe, die in einer ohnehin belastenden Lage an die Substanz gehe. „Gleichwohl haben wir noch Glück im Unglück und können uns auf ein bisher sehr treues Publikum verlassen, das noch immer Karten kauft“, sagt der Intendant. Ob das so bleibt?
Wie Opern-, Konzerthäuser, Theater und andere Kultureinrichtungen in den Winter gehen, hängt stark vom Bundesland ab. Während Häuser in Baden-Württemberg noch fünfzig Prozent der Plätze belegen dürfen, sind die Regelungen in Bayern bereits strikter. Bei Marcus Rudolf Axt, dem Intendanten der Bamberger Symphoniker, führt das zu Besorgnis: „Erlaubt sind nur noch 25 Prozent der Belegung, auch in Sälen mit großem Luftraumvolumen, obwohl das Infektionsrisiko im Theater oder Konzertsaal marginal ist.“ Es gebe nun eine vierfache Sicherung: 2 G plus (Geimpfte, Genesene mit Schnelltest), Maskenpflicht, Hygienekonzepte mit Lüftungssystemen und eben noch der große Abstand zu anderen Gästen. Wo der Saal sonst mit 1400 Gästen gefüllt gewesen wäre, dürfen nur noch 350 Platz nehmen. Das Haus muss auswählen, wer kommen darf. „Weil die meisten Karten schon weit im Voraus verkauft wurden, arbeiten wir mit einem rollierenden System“, sagt der Intendant. „Mit Blick auf die sich zuspitzende Situation schwanken wir zwischen Verständnis für die Maßnahmen und Kritik, da es ja ausgeklügelte Hygienekonzepte gibt. Wir hoffen bloß, dass uns das Publikum nicht von der Fahne geht.“ Der Abonnentenstamm seines Haues liege im Vergleich zu Pandemiebeginn noch bei 85 Prozent. Andere Häuser berichteten von sechzig Prozent und der Sorge, dass die Treue des Publikums weiter nachlässt.
Bereits 8,5 Milliarden Euro Verlust
Ob in Opern- und Konzerthäusern, Theatern, Kinos und Museen – über alle Sparten hinweg verbreitet sich die Furcht vor einem neuerlichen Lockdown. Die Verluste in den Branchen sind bereits jetzt gigantisch: Der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft schätzt die Umsatzeinbußen seit Beginn der Pandemie und bis Ende 2021 auf mindestens 8,5 Milliarden Euro. Eine Umfrage bei mehreren Verbänden zeichnet ein Stimmungsbild, das von Sorge, Unverständnis und Enttäuschung geprägt ist.
„Aktuell macht sich bundesweit eine Panikstimmung breit“, sagt Helge-Björn Meyer, Geschäftsführer des Bundesverbands Freie Darstellende Künste. Die sechzehn Landesverbände mit ihren insgesamt 25.000 Mitgliedern sind alarmiert: In vielen kleineren Theatern tendiere der Betrieb gegen null. „Die Verunsicherung auch der Mitarbeitenden auf und hinter der Bühne wächst fast täglich. Zudem stehen sensible Fragen im Raum: Es gibt Reibungen um die Einstellung zur Impfung und wie zum Beispiel mit Risikogruppen unter den Mitarbeitern umgegangen wird“, sagt Meyer. Theaterfestivals seien abgesagt worden, die Zahl der Kartenverkäufe für Aufführungen in freien Theaterhäusern, die sonst jetzt die meisten Vorstellungen geben würden, sinke rapide. „Die Verunsicherung im Publikum ist unserer Beobachtung nach groß. Die Vorverkäufe sind, mit Ausnahme von Berlin, nahezu zum Erliegen gekommen.“
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Ähnlich drastisch bewertet der Deutsche Bühnenverein die Situation. Die Enttäuschung über den Lockdown aus dem Winter 2020 sitzt noch immer tief: „Damals wurden die Häuser mit Glücksspiel und Prostitution in einen Topf geworfen, die Theater und Orchester wurden unter dem Label Freizeitgestaltung geschlossen; nun sieht die Lage für die darstellenden Künste wieder schlecht aus“, sagt Marc Grandmontagne vom Bühnenverein. Er spricht damit die Situation mit Schließungen in Sachsen oder Baden-Württemberg an. Es mache sich das Gefühl breit, dass in der Branche zwar Höchstleistungen erbracht würden, aber alle Bemühungen nicht ausreichten. „Wir als die Theater und Orchester haben uns in den vergangenen anderthalb Jahren sehr stark bemüht, unsere Hausaufgaben zu erledigen“, behauptet Grandmontagne. Zahlreiche Studien und Messungen, zum Beispiel des Fraunhofer Heinrich-Hertz-Instituts, seien zu dem Schluss gekommen, dass ein leistungsfähiges Lüftungssystem und akkurate Hygienemaßnahmen eine Infektion bei einem Besuch beinahe ausschließen. Viele Theater und Konzertsäle hätten in den vergangenen Monaten technisch aufgerüstet. „Dass diese Erkenntnisse in der Politik kaum gehört wurden, sorgt für viel Unverständnis. Wir sehen außerdem mit Sorge, dass das novellierte Infektionsschutzgesetz den Ländern fast ausschließlich im Bereich der Kultur erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu bieten scheint.“ Wenn es zu Kontaktbeschränkungen komme, müssten alle Branchen betrachtet werden. „Es darf keine wiederholte einseitige Benachteiligung der Kunst geben“, fordert Grandmontagne.
Restaurants auf, Theater zu?
Die Initiative „Aufstehen für die Kunst“ kämpft seit November 2020 vor allem mit juristischen Mitteln gegen unangemessene Corona-Restriktionen im Kulturbereich. „Schließungen im Kulturbereich haben eine besonders große Begründungspflicht wegen der grundgesetzlichen Stellung der Kunstfreiheit, zum Beispiel natürlich in Bundesländern wie Bayern, die sich laut ihrer Verfassung sogar als Kulturstaat verstehen“, sagt der Mitinitiator Wolfgang Ablinger-Sperrhacke. Eine Klage beim Bayerischen Verfassungsgericht gegen die Maßnahmen des Freistaates während des zweiten Lockdowns sei noch anhängig. Skeptisch blickt Ablinger-Sperrhacke auch nach Sachsen: „Es ist sehr fragwürdig, dass die Gastronomie dort zwar noch geöffnet hat, Kulturhäuser nun aber schon schließen mussten. Ich halte solche Vorhaben für einen riesigen, kommunikativen Fehler: Den Menschen wird suggeriert, dass es gefährlicher ist, in einen Opernsaal mit strikter Hygiene-Kontrolle zu gehen als in ein volles Restaurant oder eine Bar, was allen bisherigen wissenschaftlichen Studien komplett widerspricht.“
Mit ähnlichen Problemen sehen sich auch die Kinos konfrontiert. „Es ist nachvollziehbar, dass die Politik in einer Ausnahmesituation alles auf den Prüfstand stellt“, sagt Christian Bräuer, Vorsitzender des Verbandes AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater. „Die Politik muss jetzt aber klar kommunizieren, was auf uns zukommt. Planbarkeit muss möglich sein, nicht zuletzt für Festivals bis hin zur Berlinale.“ Wenn sich die Situation nicht verbessere, wonach es nicht aussieht, müsste auch über neue Hilfsprogramme und eine Neuauflage der November- und Dezemberhilfen aus dem vergangenen Jahr gesprochen werden.
Weitere Einschnitte ob der vierten Corona-Welle sieht auch Eckart Köhne auf den Kulturbetrieb zukommen. Er ist Präsident des Deutschen Museumsbundes und sieht vor allem die Gefahr, dass die Menschen trotz guter Hygienekonzepte in den Gebäuden nicht mehr vor die eigene Haustür gehen. Eine seiner Befürchtungen hört man auch bei den Verantwortlichen für Konzerthäuser, Theater, Opern und Kinos: „Wenn eine Art kulturelle Entwöhnung stattfindet, müssen wir künftig noch einmal ganz anders um Publikum werben.“ Wo neue Überbrückungshilfen nötig würden, zeichne sich auch ab, dass Bundesländer und Kommunen in ihren Haushalten die nächsten Jahre im Kulturbereich sparen könnten. Und ganz abseits von wirtschaftlichen Erwägungen, betont Köhne, seien öffentliche Kulturorte auch in der Hochphase der Pandemie ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens: „Die Menschen brauchen doch diese Orte der sozialen Zusammenkunft, auch um das Gedankenkreisen rund um die Pandemie einmal zu unterbrechen.“ Und er wandelt Bertolt Brecht ab: Es gehe eben nicht nur um das Fressen, sondern auch um die Moral. LEON SCHERFIG