Vor 75 Jahren schockte Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ die deutsche Öffentlichkeit. Das Stück verhandelt die Schrecken des Krieges und wirft Fragen auf, die auch heute wieder aktuell erscheinen. Zum Jubiläum haben wir mit dem Regisseur und Ufa-Chef Nico Hofmann über die Zeitlosigkeit des Stücks gesprochen.
Herr Hofmann, können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Wolfgang Borcherts Theaterstück „Draußen vor der Tür“ erinnern?
Ich habe Borchert schon früh kennengelernt, denn sein Stück gehörte zu unserem Schulstoff. Durch meine Eltern, die beide den Krieg miterlebt hatten, ergab sich ein Bezug zu dieser Zeit. Entscheidend war das Theaterstück für meinen Vater.
Inwiefern?
Mein Vater war auch Kriegsheimkehrer. Er hatte die letzten Monate des Krieges im Lazarett erlebt und damit den völligen Zusammenbruch, den Nullpunkt seiner Generation. Er hat Borcherts Stück verehrt, er hat es geradezu verschlungen. „Draußen vor der Tür“ hat auf realistische Weise sein eigenes Leben im Nationalsozialismus wiedergegeben. Für meinen Vater war das eine ganz entscheidende Zusammenfassung eigener Erfahrungen.
Hat das Theaterstück Ihrem Vater erleichtert, mit Ihnen über diese Zeit zu sprechen?
Definitiv. Allerdings erst in den siebziger Jahren. Auslöser, mich mit dem Themenkomplex des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, war die amerikanische Serie „Holocaust“, die in Deutschland damals stark diskutiert wurde. Durch sie kam es für meinen Vater und mich noch einmal zu einer emotionalen Begegnung mit den Erfahrungen seiner Generation im „Dritten Reich“, und mit dem Stück „Draußen vor der Tür“ mündeten unsere Gespräche in gemeinsame Diskussionen.
Gerade das war damals ungewöhnlich. Kriegsheimkehrer waren nicht nur traumatisiert, sondern über ihre Erlebnisse zu reden, galt als Tabu. Wie lange hat es mit Ihrem Vater gebraucht, die letzten Türen zu öffnen?
Auch bei meinem Vater brauchte es Zeit, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich erklären zu können. Er ist vergangenes Jahr im Alter von 96 Jahren gestorben. Die wirkliche Auseinandersetzung mit seinen Kriegserlebnissen lief – wie bei einer Psychoanalyse – erst in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod ab.
Draußen vor der Tür: Nico Hofmann über das Theaterstück
ZUR PERSON: Nico Hofmann, Jahrgang 1959, ist Regisseur, Filmproduzent und seit 2015 CEO der Ufa-Gruppe. Er produzierte unter anderem „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013), „Deutschland 83“ (2015) sowie „Ku’Damm 56“ (2016). Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet und schafften teils sogar den Erfolg in den USA.
Wie können wir uns das vorstellen?
Er hatte jede Nacht Träume mit allen Details aus dem Krieg. Es ging beispielsweise um den Tod seines besten Freundes und vieles mehr. Man hat dieser Generation angemerkt, dass sie traumatisiert war: Erst im Angesicht des eigenen Todes hat sich mein Vater diesem Thema hundertprozentig gestellt, so stark wirkte die Tabuisierung.
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War alles gesagt, als er starb?
Ich glaube, ja. Ich war fasziniert, wie kurz vor seinem Tod die Jugendzeit als 18-jähriger Soldat wieder hochkam. Es ging damals um die Berührung mit dem Tod, die nun kurz vor seinem eigenen wieder gegenwärtig war. Daran sehen Sie, wie aktuell die Traumatisierung der Heimkehrer aus dem Krieg heute noch ist. Sie können die Situation auch abstrakt auf Soldaten übertragen, die traumatisiert aus dem Afghanistaneinsatz oder aus anderen Kriegsgebieten zurückkommen. In ihnen lebt ein Moment von Vernichtung, die durch die menschliche Seele schwer zu verarbeiten ist.
Wenn Sie sich den Text von „Draußen vor der Tür“ als kritischer Regisseur anschauen – was macht ihn handwerklich heute so zeitlos?
Seine Radikalität. Er spiegelt ein Momentum im Leben von Wolfgang Borchert. So etwas kann man nur schreiben, wenn man in einem empfindsamen Zustand ist und dieser Zustand eine besondere Sprache zulässt. Es ist ein Schrei des Erlebten, unpoliert und ungehobelt. Gerade das macht diesen Text so nah.
Der Text wurde vor 75 Jahren geschrieben, was kann er uns heute sagen?
Er hat auch einen klaren Bezug zur jetzigen Kriegsrealität, das habe ich gerade erlebt: Ich unterstütze momentan zwei Schüler:innen aus der Ukraine – wenn Sie ihre Familiengeschichten hören, die Kriegsbilder aus der Ukraine vor Augen haben, sind da viele Momente, die auch im Theaterstück stattfinden, auf erschreckende Weise aktuell.
Wie weit hat Borcherts Theaterstück Ihr eigenes filmisches Werk beeinflusst?
Sehr stark. Der Tonfall von Borchert ist mir nah. Ich habe das Stück acht Mal auf der Bühne gesehen. Ich kann sein Buch noch heute zur Hand nehmen und es bedeutet mir viel. Borchert ist zeitlos. Gerade in unserer Zeit, wo unlängst die grandiose Verfilmung von „Im Westen nichts Neues“ möglich wurde, bekommen diese Stoffe eine ganz neue Dimension.
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Ist das Theaterstück Ihrer Meinung nach verfilmbar?
Ja, wenn man sich die Mühe macht, in dieses Innenleben des Protagonisten hineinzukriechen. An sich ist es ein klassisches Kammerspiel, man müsste eine eigene Sprache für das Grauen finden für diese Art von Traumatisierung. Aber es wäre durchaus den Versuch wert, weil Borchert uns gerade in der jetzigen Zeit viel erzählt. In der augenblicklichen Kriegssituation macht seine Sprache, sein Stück eine ganz andere Interpretation möglich. INTERVIEW: VOLKER TACKMANN