Im Ukrainekrieg werden Denkmäler, historische Gebäude und Kulturstätten zerstört. Eine App ermöglicht, das kulturelle Erbe des Landes zumindest digital zu konservieren. Für die Nutzer ist es auch eine Möglichkeit, mit dem Krieg umzugehen.
Als die russischen Truppen in den ersten Kriegstagen nahe auf Kiew vorrücken, läuft Juri Artjuch durch die Straßen seiner Heimatstadt und lässt den Blick über alles wandern, was ihm schützenswert erscheint. Er richtet sein Handy auf kleinere Skulpturen, Denkmäler und historische Gebäude. Der 39 Jahre alte Ukrainer umkreist Schritt für Schritt die Monumente und Statuen der Hauptstadt, fotografiert sie aus unterschiedlichen Perspektiven und speichert die Aufnahmen mit einer App, die das kulturelle Erbe der Ukraine digital sichern soll.
„Ich hatte damals das sehr starke Gefühl, dass ich Dinge schützen und bewahren muss“, sagt Artjuch im Videogespräch. Er trägt Kapuzenpullover, sitzt mit großen schwarzen Kopfhörern am Computer und erzählt, wie er sich in jenen Tagen zunächst ohnmächtig gefühlt habe. Dann entdeckte der Webdesigner und Entwickler im Netz die App Backup Ukraine, die seine Ohnmacht auflöste. Sie erstellt 3-D-Modelle von Objekten: Viele einzelne Fotos aus unterschiedlichen Blickwinkeln setzen sich wie Bausteine zusammen zu einem Abbild des realen Gegenstands. „Die App kann helfen, zumindest digitale Kopien zu machen, um Zerstörtes später rekonstruieren zu können“, sagt Artjuch.
Russische Luftangriffe vernichten in der Ukraine nicht nur kritische Infrastruktur – der Krieg walzt auch Teile des kulturellen Erbes nieder. Immer wieder fallen jahrhundertealte Denkmäler, Skulpturen, historische Gebäude oder Kirchen den Kamikaze-Drohnen und Raketen zum Opfer. Seit dem 24. Februar wurden laut UNESCO mehr als 210 Kulturstätten zerstört oder beschädigt. Geld für den Wiederaufbau ist bereits versprochen. Die G 7 und die EU einigten sich Ende Oktober auf einen Marshallplan: Mit Milliardenhilfen soll das Land wieder aufgebaut und sollen Krankenhäuser, Kindergärten, Kraftwerke, Büro- und Wohngebäude rekonstruiert werden – und wenn möglich auch die vielen Kulturschätze.
Wiederaufbau in der Ukraine: Rettung des kulturellen Erbes
Die Bereitschaft, mitzumachen, ist groß. Mehr als 50 000 Menschen haben die App Backup Ukraine den Machern zufolge auf ihre Handys geladen. Jeder Nutzer kann seine 3-D-Scans in ein großes Archiv im Internet hochladen, das frei für jeden zugänglich ist. Um einen Gegenstand einzuscannen, braucht es nur ein Smartphone und die kostenlose App. Die Scans können auch von Laien ohne Vorkenntnisse angefertigt werden: Wie beim Fotografieren richtet man das Handy auf den Gegenstand, startet den Aufnahmemodus und schreitet langsam um ihn herum, um das Objekt aus allen Perspektiven einzufangen. Für ein gutes Ergebnis sind, Nutzerberichten zufolge, fünf bis sechs Umkreisungen nötig. Schließlich modelliert die Software aus den Einzelaufnahmen ein 3-D-Modell, das ins große Archiv im Netz einfließt.
Laut den Machern der App sind inzwischen 35 000 digitalisierte Objekte gespeichert worden. „Nicht jeder, der die App auf dem Handy hat, benutzt sie täglich. Aber wir haben einen Kern von einigen Hunderten Leuten, die sehr engagiert bei dem Projekt dabei sind“, sagt Initiator Tao Thomsen von der Agentur Virtue aus Kopenhagen, die zum Medienunternehmen Vice gehört. Er und sein Team brachten die dänische UNESCO-Kommission, die Weltkulturerbe-Organisation Blue Shield Denmark und die Experten der 3-D-Scan-Software Polycam zusammen.
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Innerhalb von Tagen war Backup Ukraine programmiert und online. Die Idee des Projekts hebt Søren la Cour Jensen, Vorsitzender von Blue Shield Denmark, in einer Mitteilung hervor: „Wie wir nach dem Zweiten Weltkrieg und vielen späteren Konflikten gelernt haben, ist die Rettung des kulturellen Erbes eines Landes der beste Weg zum Wiederaufbau und zur Wiederbelebung der Gesellschaft. Totalverlust ist unsere größte Angst, und Backup Ukraine bietet ein neues und wichtiges Werkzeug, das das verhindern kann.“
Ins Archiv in der Cloud laden die Nutzer allerdings längst nicht nur Objekte der Hochkultur, wie es ursprünglich der Plan war, sondern auch Alltagsgegenstände und Zeugnisse des Kriegs – von Kugeln durchlöcherte Sportwagen, zerknüllte Schokoriegel-Verpackungen, Cola-Dosen. Und sogar auch: ganze Wohnzimmer, samt Sofas, Fernsehern, Bücherregalen.
„Einige Nutzer konservieren auf diese Weise ihr alltägliches Leben, um sich daran erinnern zu können, auch wenn es der Krieg ihnen mit einem Mal entreißt“, sagt Thomsen. Da habe es zum Beispiel den Fall eines Nutzers gegeben, der sein komplettes Apartment eingescannt habe. Als er eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, waren dort nur noch Ruinen, das Wohnhaus von Raketen zerbombt, berichtet Thomsen. „Mit den 3-D-Modellen konnte er seine Wohnung zumindest digital wieder betreten.“
Und so wächst im Netz ein riesiges Archiv aus Abbildern und digitalen Gegenständen, das keine physische Bombe zerstören kann. Jedes der 3-D-Modelle kann mit wenigen Klicks geöffnet, geschwenkt, gezoomt werden. Was für den einen nur eine Spielerei ist, kann für den anderen eine wertvolle Erinnerung sein oder eine Möglichkeit, mit den Grauen des Krieges umzugehen.
„Eine Animation erstellen, die Hoffnung und Mut macht“
Jeder nutzt die App anders, oft setzt sie Kreativität frei. So auch bei dem 30 Jahre alten Jaro N., der ebenfalls in Kiew lebt. „Den Großteil meiner Freizeit investiere ich in 3-D-Scans“, sagt er. Er konzentriert sich auf die Sicherung von Street-Art in der ukrainischen Hauptstadt und setzt noch eine weitere Idee mit Backup Ukraine um: eine Art digitales Kriegsmuseum. „Dafür habe ich begonnen, Objekte in Butscha und Irpin zu scannen, nachdem diese Gebiete befreit wurden.“ Dort habe er alles aufgenommen, was ihm vor die Handykamera kam: zerstörte Gebäude, Panzer, Autos, Fußballplätze, Kirchen, Kindergärten und vieles mehr. „Mein Ziel mit den Aufnahmen ist es, ein möglichst rohes und lebendiges Bild des Krieges zu zeigen: Die Menschen sollten sehen, wie schrecklich und verheerend der Krieg wirklich ist, und darüber nachdenken, wie sie helfen können“, erklärt Jaro.
Jedes Wochenende, sagt der Hauptstadtbewohner, fahre er deshalb in vom Krieg verwüstete Dörfer nahe Kiew und Tschernihiw. „Seit dem Sommer verbinde ich die Möglichkeiten der App mit meiner Arbeit für eine Organisation: Repair.together ist eine Stiftung, die sich um den Wiederaufbau und Erhalt zerstörter Dörfer kümmert“, sagt der junge Mann. Einerseits sollen seine Scans eines Tages dabei helfen, zerstörte Gebäude wieder aufzubauen. Andererseits benutzt er die App, um zu dokumentieren, wie der Wiederaufbau mancherorts vorangeht: Er begleitet die Phasen Schritt für Schritt mit seinen Aufnahmen. „Daraus kann ich eine Animation erstellen, die Hoffnung und Mut macht“, sagt er.
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Tao Thomsen, der Initiator von Backup Ukraine, will die Initiative eines Tages ganz an die Ukraine abgeben. Er könne sich eine noch engere Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium in Kiew vorstellen und eine intensivere Kooperation mit den Fakultäten für Architektur der ukrainischen Universitäten. Einige Kooperationen zwischen Hilfsorganisationen und Backup Ukraine bestehen bereits, sie hängen aber oft an einzelnen Personen.
Zeugnisse der Zerstörung
Juri Artjuch, den es schon kurz nach Kriegsausbruch auf die Straßen Kiews trieb, um ein Backup der Kulturschätze zu erstellen, wirkt im Videogespräch immer wieder betrübt. „Vor einigen Tagen wurde ein altes, historisches und sehr schönes Wohnhaus hier in Kiew von einer Drohne getroffen und zerstört“, sagt er. „Leider hatten wir davon noch kein Modell.“ Damit solche Schätze zumindest digital archiviert werden, habe er inzwischen vielen in seinem Bekannten- und Freundeskreis von der App erzählt. „Viele nutzen sie jetzt auch schon“, sagt er.
Im Chat schickt der Ukrainer einen Link zu einer Animation, die er programmiert hat: Sie zeigt ein 3-D-Modell von einem zerstörten russischen Panzer. Der Scan ist aber nicht nur ein Zeugnis der Zerstörung: Fährt man mit dem Mauszeiger über das Kriegsgerät, wachsen leuchtend gelbe Sonnenblumen aus dem Stahl. Artjuch setzt an, will etwas zu seinem kleinen Kunstwerk erklären – plötzlich bricht das Video ab, vermutlich wieder ein Stromausfall. Seine Botschaft, seine hoffnungsvolle Antwort auf den Krieg, ist aber angekommen. LEON SCHERFIG