Millionen Menschen in Deutschland leben ohne Smartphone und Internet. In einer durchdigitalisierten Welt bedeutet das immer mehr Nachteile. Wie kann technologischer Fortschritt gelingen, der möglichst wenige ausgrenzt?
Dr. Jörg Pohle läuft im schwarzen Kapuzenpullover durch das Foyer des Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft. Das 2011 gegründete HIIG mit Sitz in Berlin war das erste Forschungszentrum in Deutschland, das sich mit der Digitalisierung des Lebensalltags beschäftigt. „In dem Gebäude kam ursprünglich das kaiserliche Postamt W8 unter, später zog hier eine Bank ein. Deshalb sind einige Räume so repräsentativ und großzügig“, sagt Pohle.
Zufall, doch beide vorherigen Nutzer des Gebäudes führen ins Thema des Gesprächs: Den mal stärkeren und mal schwächer vorherrschenden Druck, digitale Dienste und smarte Endgeräte zu verwenden. Online-Banking hat sich längst etabliert. Und die DHL, ehemals Deutsche Post, lagert Dienstleistungen zunehmend auf den Kunden aus: Zum Beispiel durch „smarte“ Packstationen, an denen Empfänger ihre Pakete nur mit einem bluetoothfähigen Handy und entsprechender App abholen können.
Die Liste von Beispielen für „Digitalzwang“ im Alltag wächst: Seit Juni bietet die Deutsche Bahn ihre Bahncard nur noch digital in ihrer „DB Navigator“-App an und nicht mehr als Plastikkarte. Der Informatiker Jörg Pohle leitet am Institut das Forschungsprogramm „Daten, Akteure, Infrastrukturen“. Er forscht dazu, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger hat und welche Verantwortung Unternehmen und Institutionen tragen.
Herr Pohle, es gibt ein Zitat von Friedrich Schiller, das vielleicht etwas hart klingt: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Provokant gefragt: Sollte im Jahr 2024 nicht jeder in der Lage sein, ein Smartphone zu bedienen?
Wenn wir davon sprechen, wo Menschen durch die Digitalisierung ausgeschlossen werden, geht es nicht nur darum, ob sie ein Smartphone bedienen können. Es gibt 100.000 Gründe, warum jemand zum Beispiel eine App der Deutschen Bahn oder Post nicht nutzt: Fehlendes Geld oder eine bewusste Entscheidung gegen die großen Betriebssysteme von Google und Apple. Ich selbst benutze zum Beispiel eine freie Version des Android-Betriebssystems, mit der ich keinen Zugang zum App-Store habe. Dadurch bleiben mir viele Apps verwehrt. Und ich würde nicht sagen, dass ich als Informatiker kein Smartphone bedienen kann.
Schließen Sie sich damit nicht selbst aus?
Das ist genau der Punkt, über den man öffentlich mehr reden sollte. Ich schließe mich nicht selbst aus, sondern ich werde ausgeschlossen. In der Forschung sprechen wir von Responsibilisierung. Der Begriff beschreibt eine Verschiebung der Verantwortung: Eigentlich systemische Probleme werden als individuelle Probleme des Einzelnen gefasst. Das Individuum wird dann dafür verantwortlich gemacht, dass es am Umgang mit einer bestimmten Technologie scheitert. Deshalb ist es auch nicht gut, von „Abgehängten“ in diesem Zusammenhang zu sprechen, denn sehr viele Menschen „werden“ ja abgehängt – vom Staat oder von Unternehmen, die zu wenig darüber nachdenken und von falschen Grundannahmen ausgehen und Standardverfahren einführen, die nicht für alle geeignet sind.
Die Zahlen zeigen: Rund 5 Prozent der Menschen in Deutschland im Alter zwischen 16 und 74 Jahren waren im Jahr 2023 sogenannte Offliner, wie das Statistische Bundesamt im April mitteilte. Das entspricht rund 3,1 Millionen Menschen – und damit zweimal der Bevölkerung von München. Nimmt man die Über-74-Jährigen hinzu, dürften einige Millionen hinzukommen. Deutliche Unterschiede gibt es innerhalb der Europäischen Union. In Schweden, den Niederlanden und Dänemark machte der Offline-Bevölkerungsanteil weniger als 1 Prozent aus. In Deutschland waren es in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen sogar 15 Prozent der Bevölkerung, also hatte jeder siebte Mensch in dieser Kohorte keinen Zugang zum Internet.
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Sie sprechen von falschen Grundannahmen: Welche sind das?
Grundsätzlich zunächst, dass man gemeinhin davon ausgeht, dass jeder ein passendes Smartphone besitzt. Genauer: ein modernes Gerät, auf dem iOS oder Android läuft und bei dem tatsächlich alle Funktionen funktionieren – wenn einem das Smartphone mal herunterfällt, könnte es weiter nutzbar bleiben, aber der Dienst, den man gerade braucht, etwa Bluetooth, könnte beeinträchtigt sein. Dann aber auch die Annahme, dass Netzabdeckung gegeben ist, also der Empfang mit dem Handy funktioniert. Technologien wie sie die DHL bei ihren bluetoothgesteuerten Packstationen einsetzt, basieren ja auf solchen Grundannahmen. Und das ist ein Problem, weil diese Voraussetzungen nicht unbedingt erfüllt werden. Wer im Funkloch ist, kann das Paket nicht abholen oder kann kein Ticket über die App der Deutschen Bahn oder bei einem Anbieter des öffentlichen Nahverkehrs kaufen. Unternehmensleistungen wie Ticketverkauf oder Paketzustellung werden auf den Kunden gewissermaßen outgesourct. Er arbeitet, um eine Leistung erbracht zu bekommen, um die sich früher das Unternehmen kümmerte. Oft werden digitale Fähigkeiten vorausgesetzt. Das ist die Fortführung einer Entwicklung, die wir seit mehr als 20 Jahren beobachten.
Das müssen Sie bitte erklären.
Ich glaube, ein digitaler Zwang ist heute tatsächlich sehr weit verbreitet und betrifft im Grunde alle Lebensbereiche. Noch Anfang der 2000er-Jahre war vor allem der professionelle Bereich betroffen, zum Beispiel konnten Selbstständige ihre Steueranmeldung nur noch mit der Software Elster ans Finanzamt schicken – und die war sehr lange nur für Windows verfügbar. Das hat sich dann auf alle Bereiche des Wirtschaftens ausgedehnt. Online-Banking hat die Zahl der Bankfilialen reduziert, Arzttermine bekommt man schneller über digitale Anwendungen, selbst medizinische Produkte setzen teilweise Apps voraus: Einige Hersteller von Hörgeräten erlauben es, nur die Lautstärke zu regeln, wenn der Nutzer die App des Unternehmens auf seinem Smartphone installiert. Ähnlich wie bei den DHL-Packstationen, die nur mit eigenem Endgerät funktionieren. Für viele Menschen bringt das natürlich Vorteile, viele grenzt es aber auch aus.
Die DHL betreibt immer mehr Packstationen als Alternative zu Postfilialen. Es gibt solche, die Kunden mit einem Display bedienen und solche, für die man ein Smartphone benötigt. Auf Anfrage teilt der Konzern mit, dass im vergangenen Jahr rund 1000 Packstationen mit Bildschirm in App-gesteuerte umgewandelt wurden. Die „Smartphone-only“-Stationen machen inzwischen einen beträchtlichen Teil der mehr als 12.500 Abholstationen aus: rund ein Drittel. Wer kein Smartphone nutzt, steht hier vor verschlossenen Schließfächern.
Der Verein Digitalcourage fordert ein „Recht auf analoges Leben“. Könnte das helfen?
Der Arzt und Sozialist Paul Lafargue hat Ende des 19. Jahrhunderts ein kleines Büchlein geschrieben mit dem Titel „Das Recht auf Faulheit“. Er hat darin nicht wirklich für ein Recht auf Faulheit argumentiert, sondern wollte gegenüber den Arbeitgebern die beste Ausgangslage schaffen und kritisiert den Begriff der Arbeit insgesamt. Ähnlich verstehe ich die Forderung nach einem „Recht auf analoges Leben“. Es sollte meiner Meinung nach darum gehen, eine bessere Digitalisierung zu erreichen. Menschen entscheiden sich nicht nur für oder gegen ein Smartphone. Sie entscheiden sich auch für oder gegen eine bestimmte App. Und da gibt es leider sehr viel minderwertiges Angebot. Wenn es aber eine analoge Alternative gibt, dann ist die schlechte App eben nicht mehr konkurrenzlos, und erst dann besteht für die Hersteller bzw. Betreiber ein Zwang, die App besser zu machen. Und ganz wichtig: Der Staat oder die Unternehmen, die für diese digitalen Dienste verantwortlich sind, sollten sich außerdem mehr Gedanken darüber machen, welche Gruppen der digitale Fortschritt möglicherweise ausschließt. In anderen Bereichen machen wir das auch. Nehmen Sie Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Das Baugesetzbuch schreibt vor, dass öffentliche Gebäude barrierefrei sein müssen und auch Bürger mit Mobilitätseinschränkung Zugang haben.
…dafür braucht es Rampen oder Aufzüge. Eine barrierefreie Digitalisierung dürfte komplizierter sein, weil jeder Service und jede Dienstleistung anders ist.
Ganz genau, die Lösungen können durchaus kategorial unterschiedlich aussehen: Für den öffentlichen Verkehr braucht es sicher andere Ansätze als für die Post oder für Telekommunikationsdienstleistungen. Manchmal wird es reichen, dass es auch analoge Alternativen gibt, etwa bei Bürgerdiensten in Kommunen. Und es kann auch Fälle geben, wo wir zu dem Schluss kommen: Hier digitalisieren wir am besten überhaupt nicht. Das könnte zum Beispiel bei psychotherapeutischen Beratungen der Fall sein, bei politischen Wahlen und natürlich bei Notfallsystemen im Bereich der kritischen Infrastruktur, die gerade funktionieren müssen, wenn nichts sonst mehr funktioniert. Grundsätzlich ist es vor allem wichtig, dass wir jetzt die Diskussion führen, wie eine bessere Digitalisierung gelingen kann. Und wir sollten, wie am Anfang erwähnt, die Verantwortung nicht auf jene schieben, die aus Gedankenlosigkeit ausgegrenzt werden.
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