IMPFKRITIK

Was die Impfgegner der Kaiserzeit über heute erzählen

Impfgegner Pocken Pandemie Die erste Ausgabe des "Impfgegners" erschien im Jahr 1883. Foto: Screenshot ZB MED

Pocken, Proteste, Parolen: Die Zeitschrift „Der Impfgegner“ war das Zentralorgan der Impfkritik im Deutschen Kaiserreich. Sie kritisierte “ falsche deutsche Tendenz-Statistik“ und die Schulmedizin. Wer sie heute liest, entdeckt zahlreiche Parallelen zur aktuellen Diskussion.

Frankfurt. Die Demonstranten tragen ihre Kritik mit eindeutigen Parolen auf die Straße: Impfungen seien Gift und verhinderten eine „Selbstheilung“ des Körpers. Sie fordern eine „natürliche“ Immunisierung durch Abhärtung und gesunde Lebensführung, verurteilen den medizinischen Eingriff des Staates auf den Bürger und lehnen die Methoden der Schulmedizin ab. Zu dem Protestzug zählen an diesem Septembermorgen neben hartgesottenen Impfgegnern auch Antisemiten, besorgte Bürger, die ihre „Familienfreiheit“ bedroht sehen, Staatskritiker verschiedener Couleur – es ist ein Zusammenschluss diverser Strömungen, der durch die Frankfurter Altstadt zieht.

Das Ziel: der „Fünfte deutsche Impfgegner-Kongress“, der im September 1911 in der Mainmetropole tagt. Für zwei Tage wird Frankfurt zur Hauptstadt der deutschen Impfgegner. Und die Gemeinschaft wächst und wächst: Mehr als 300.000 Mitglieder gehören im Jahr 1914 Impfgegner-Vereinen an, die sich vor dem Ersten Weltkrieg aufs ganze Deutsche Kaiserreich verteilen. Seinen Anfang nahm der breite Protest, nachdem Reichskanzler Otto von Bismarck im Jahr 1874 das Reichsimpfgesetz erlassen hatte, eine Impfpflicht, um die grassierende Pockenepidemie einzuhegen. Die Massenbewegung der Impfgegner organisierte sich in Kongressen und Vereinssitzungen, es kursierten etliche Flugblätter und Leseheftchen, die der gemeinsamen Sache dienten.

Impfgegner im Deutschland des Kaiserreichs: „Falsche Tendenz-Statistik“

„Wir können in dieser Zeit sicherlich von Echokammern im Milieu der Impfgegner sprechen: Es gab eine große Zahl an impfkritischen Druckerzeugnissen, und viele Impfgegner bewegten sich in einer Teilöffentlichkeit, in der man sich Verschwörungstheorien auch gegenseitig bestätigte“, sagt Malte Thießen. Der Medizinhistoriker der Universität Münster hat zum Thema unter anderem das Buch „Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“ geschrieben. „Die wichtigste publizistische Funktion nimmt im Kaiserreich die Zeitschrift Der Impfgegner ein“, sagt der Historiker. Sie gilt als das Zentralorgan der zeitgenössischen Impfkritik. Wer das Blatt studiert, kommt nicht umhin, zwischen den Zeilen zahlreiche Streitfragen aufleuchten zu sehen, die das Land heute wieder unter Spannung setzen.

Die erste Ausgabe der Zeitschrift erscheint im Jahr 1883. Der Herausgeber Heinrich Oidtmann, Arzt und Familienunternehmer aus Linnich, wirft dem Staat darin angesichts der Zahl der Pockentoten „falsche deutsche Tendenz-Statistik“ vor. An anderer Stelle greift die Zeitschrift die Zahl der Pockentoten und -geimpften in der Armee auf: Der Berichterstatter des Kriegsministeriums trickse mit Zahlen, „weil er weiß, dass das Publikum und die Herren Zeitungsredacteure an Zahlenblindheit leiden“. Unter der Überschrift „Schwere Erkrankung von Soldaten an Impfrothlauf“ werden mit fast voyeuristischer Lust die Einzelheiten der Impfnebenwirkungen illustriert.

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Über die Impfschäden lieferten sich die Abgeordneten harte Auseinandersetzungen im Reichstag, sagt Medizinhistoriker Thießen. „Bei den amtlichen Statistiken war das Kernproblem, was überhaupt als Impfschaden gezählt wird.“ Die „Reichsstatistik“ habe versucht, möglichst wenige Fälle in das Zahlenwerk aufzunehmen. „Impfgegner wollten aber den Nachweis führen, dass es eine beträchtliche Zahl an Impfschäden gab, was ja oft auch den Tatsachen entsprach. Dafür griffen sie zu Detailbeschreibungen der Leiden und drastischen Mitteln“, sagt Thießen. Ihren düsteren Höhepunkt erreichte diese Publizistik einige Jahre später mit dem Buch „Der Impf-Friedhof“. Das morbide Werk listet 36.000 schwere Fälle von Impfschäden auf und veranschaulicht diese mit knapp 140 Abbildungen, darunter viele tote Kinder.

Die Zeitschrift Der Impfgegner, die fast fünfzig Jahre den impfkritischen Ton angibt, behandelt auch die Frage nach den Totenscheinen der Pockentoten. Im Ressort „Vermischtes“ heißt es in der Erstausgabe unter der Überschrift „Fälschung der Todtenscheine durch Ärzte“: „Die Gewohnheit, den Todtenschein zu fälschen, wenn bei Kindern der Tod in Folge von Impfungen eingetreten ist, wird so allgemein, dass man diese Thatsache als einen Scandal bezeichnen kann.“ Der Artikel beschreibt den Fall eines Kindes: „Nach der Impfung stellten sich Rothlauf des geimpften Armes und Geschwüre ein, und das arme Opfer verschied zu einem anderen Leben, in welchem es keinen Impfzwang giebt.“ Wer sich der Impfpflicht widersetzte, den ahndete der Staat mit Geldstrafen von bis zu 300 Reichsmark oder sogar Haft. Die Zeitschrift Der Impfgegner beklagt: „Doch die liberale Presse schweigt zu diesen Umständen im modernen Staat.“ Weil der soziale Druck auf Ungeimpfte enorm stieg, sagt der Historiker Thießen, florierte das Geschäft mit gefälschten Impfzertifikaten. Eine von vielen Parallelen zur Corona-Pandemie, über die Thießen zuletzt auch ein Buch veröffentlichte (+ Anzeige).

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Die Zeitschrift „Der Impfgegner“ gab im Kaiserreich knapp 50 Jahre den impfkritischen Ton an. Foto: Screenshot ZB MED

„Antwort auf Primat der akademischen Medizin“

Der Kulturwissenschaftler Eberhard Wolff, der auch zur Impfdebatte im 19. Jahrhundert geforscht hat, beobachtet, dass sich die Diskussion immer wieder an einzelnen Personen entlud. „Wenn der Herausgeber des Impfgegners Oidtmann in der Zeitschrift den Impfbefürworter Robert Koch scharf angeht, ist das immer auch ein Teil von Herrschaftskritik“, sagt Wolff. Im Jahr 1887 verurteilte das Landgericht Aachen den rührigen Impfgegner zu einer Geldstrafe, weil er nicht belegbare Vorwürfe gegen Robert Koch geäußert haben soll. „Am historischen Beispiel Oidtmann lässt sich nachvollziehen, wie sich der Impfdiskurs beiderseitig emotional hochschaukelte. Dabei sollten auch die staatlichen Ausgrenzungsmechanismen nicht übersehen werden“, sagt der Wissenschaftler der Universität Basel und Zürich.

Bei genauerer Betrachtung ergebe sich ein Bild, bei dem nicht einfach „durchgeknallte Extremisten am Werke sind“, sagt Wolff. „Die Impfgegnerschaft ist vor dem historischen Hintergrund auch eine Antwort auf das Primat einer akademischen Medizin, die damals zunehmend autoritär auftritt.“ Zur gleichen Zeit gelangten Naturheilbewegung und Homöopathie zu großer Popularität. Die Gegner der Schulmedizin einte der Wunsch nach einer natürlichen Alternative. „Diese aber nur als eine Gegenbewegung zur Moderne und Wissenschaft zu verstehen, greift viel zu kurz“, sagt Wolff. „Hier fühlte sich ein städtisches und kleinstädtisches Bürgermilieu nicht ausreichend repräsentiert“, resümiert er.

Die Erkrankung indes war sehr viel tödlicher als andere Infektionen: Fast 30 Prozent der Infizierten, die nicht geimpft waren, starben, sagt Medizinhistoriker Malte Thießen. Doch auch die Impfnebenwirkungen waren beträchtlich: Noch in den 1960er-Jahren habe es bei einem von 20 000 geimpften Kindern einen schweren Impfschaden gegeben. „Und das bedeutete tatsächlich Tod oder eine schwere Behinderung.“ Zur Kaiserzeit sei diese Rate noch weitaus höher gewesen. Die Kritik an der Impfung müsse daher auch immer vor dem Hintergrund ihrer Zeit beurteilt werden, sagt der Historiker. „Und die Geschichte der Impfkritik ist ein Plädoyer dafür, auch einen zweiten Blick auf die heutigen Proteste zu werfen.“ LEON SCHERFIG

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