| Erschienen in der Berliner Zeitung |
Auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) hatte im Lockdown 2020 mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen: Weil kaum mehr Flugzeuge am Himmel waren, fehlten wichtige Daten aus der Atmosphäre, die zur korrekten Vorausberechnung wichtig sind. Wie man die Krise meisterte und warum Feuchtigkeitssensoren an Flugzeugen bei Unwetter-Katastrophen wie in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz künftig Leben retten können, erklärt Diplom-Meteorologe Alexander Cress (59) im Interview mit Volker Tackmann.
Herr Cress, warum war der Lockdown auch für die Qualität der Wettervorhersagen bedenklich?
Alexander Cress: Jede Maschine misst während Start- und Landephase Luftdruck, Lufttemperatur und Wind und einige wenige auch die Luftfeuchte. Mit den Daten aus 350.000 Flugbewegungen, die wir an normalen Tagen über Europa haben, erarbeiten wir unsere Vorhersagemodelle. Nun blieben die meisten Maschinen am Boden – damit hätte sich die Qualität der Vorhersagen um 15 Prozent verschlechtern können.”
Wie konnten sie gegensteuern?
Cress: Wir haben die Starts unserer Wetterballons von zwei auf vier verdoppelt. Sie steigen mit ihrer Messeinheit in 30 Kilometer Höhe auf und platzen. Seit Corona nutzen wir erstmals auch die Daten aus dem Sinkflug der Messeinheit, die an einem kleinen Fallschirm ganz gemütlich die Erde ansteuert.
Nur vier Wetterballons konnten das Daten-Manko von ein paar Tausend Flugzeugen ausgleichen?
Cress: Nein, nicht allein. Wir griffen noch zusätzlich auf den Wettersatelliten Aeolus zurück. Er ist seit 2018 im Orbit und übermittelt Daten zu vertikalen, also in unterschiedlichen Höhen vorhandenen, Windprofilen. So eine Technik haben noch nicht einmal die Amerikaner. An seiner Entwicklung war der DWD beteiligt, ich durfte ihn im Team mitentwickeln. Nach einer Probephase haben wir ihn in der Coronakrise vermehrt eingesetzt. Man kann sagen: Mit Aeolus und den Wetterballons konnten wir die Qualität der Vorhersage halten.
Bedeutet das, dass sie die Daten aus Flugzeugen in Zukunft nicht mehr brauchen?
Cress: Doch wir werden Sie dringend brauchen. Denn Aeolus steht uns nur noch bis Ende 2022 zur Verfügung. Sein kleiner Motor ist erschöpft, seine 70 Spiegel, auf der per Laserstrahl Aerosolteilchen gemessen werden, beschlägt immer wieder. Zwar gibt es eine Reinigungsflüssigkeit, doch sie ist bald aufgebraucht. Und um sie aufzufüllen, kann man kein Space Shuttle zu ihm schicken. Der nächste Satellitenstart ist nicht vor 2029 geplant. In dieser Zeit brauchen wir Messdaten aus Flugzeugen. Besonders die Werte der Feuchtigkeitssensoren. Und da sind wir nicht so gut aufgestellt.
Wie kann man das verstehen?
Cress: Für ganz Europa sind gerade mal neun Maschinen mit Feuchtigkeitssensoren ausgestattet. Das ist viel zu wenig. Wir bräuchten mindestens 40, um korrekte Vorhersagen im Bereich Niederschlag, Windböen und Nebel machen zu können.”
Woran liegt es?
Cress: Die Fluggesellschaften sehen es nicht gern, wenn man ein Loch für einen Sensor in den Rumpf ihrer Maschinen bohrt. Sie wollen ihr Flugzeug nach 25 Jahren weiterverkaufen, dafür muss dieses Loch in einem aufwendigen Genehmigungsverfahren wieder geschlossen werden. Das kostet Zeit und Geld, da winken viele ab. Aber wir sind in Verhandlungen mit der Lufthansa und anderen Airlines in 40 Maschinen einen Feuchtigkeitssensor einzubauen. Allein sie würden schon ein ganz neues Wetterbild über Europa ergeben.
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Warum ist die Ermittlung der Leuchtfeuchtigkeits-Werte überhaupt von so großer Bedeutung?
Cress: Mit ihnen können wir die Menschen schneller warnen, wenn ein schwerer Starkregen, Hochwasser, ein Unwetter oder Orkan droht. Alles, was mit einem hohen Schadenspotenzial nach Unwettern zu tun hat, hängt mit der Luftfeuchtigkeit zusammen. Und diese Werte haben wir, aufgrund nicht ausreichender Grunddaten, noch nicht vollständig im Griff, wie die Niederschlagsvorhersagen hin und wieder zeigen. Aber das liegt schlicht daran, dass wir zu wenig Werte haben, auf die unsere Vorhersagemodelle nun einmal aufbauen.
Mal angenommen, sie würden plötzlich über all diese Daten verfügen, welche Möglichkeiten hätten Sie dann konkret?
Cress: Es ist ganz einfach: Je besser man ein Unwetter vorhersagen kann, desto besser kann man die Menschen davor warnen und schützen. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie es wäre, wenn vor einem schweren Unwetter mit seinen Folgen, wie beispielweise jetzt das Hochwasser in NRW, Polizei und Feuerwehr, die ganze Rettungskette, von uns sehr früh davon Kenntnis hätten. Das könnte Menschenleben retten.
Braucht es jetzt mehr politischen Druck?
Cress: Als Wissenschaftler kann ich nur sagen: In Deutschland werden Starkniederschläge und damit auch die Hochwasser weiter zunehmen – da ist sich die Forschung in ihren Klimamodellen einig. Auch Tornados, wie jüngst in Tschechien, die fast schon die Qualität amerikanischer Wirbelstürme haben, werden vermehrt auftreten. Da ist Vorwarnung entscheidend. Wenn man bedenkt, dass unser Auftrag darin besteht, die Bevölkerung vor solchen Unwettern zu warnen, brauchen wir dafür auch adäquate Messdaten. Und je mehr Daten uns zur Verfügung stehen, umso besser kann man warnen.