Geflüchtete Ukrainer: Abschied ohne traditionelle Zeremonie

Friedhof in der Ukraine: Die Bestattung ist im ukrainisch-orthodoxen Glauben mit vielen Ritualen verbunden. Foto: Adobe Stock / Sergii Figurnyi Friedhof in der Ukraine: Die Bestattung ist im ukrainisch-orthodoxen Glauben mit vielen Ritualen verbunden. Foto: Adobe Stock / Sergii Figurnyi

Mehr als 1,2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine leben in Deutschland, viele sind ukrainisch-orthodox. Der letzte Wunsch ist es oft, in der Heimat beerdigt zu werden. Doch das ist häufig eine Herausforderung. 

Wer stirbt, gilt im orthodoxen Glauben weiter als Teil der Gesellschaft, oft spricht man von Vorausgegangenen. Zu den Traditionen gehört es, mit den Verstorbenen ein gemeinsames Mahl auszurichten. So ist es auch in der Familie Frantseva. Üblich sei es, die Gräber an Ehrentagen wie dem Geburtstag oder dem Todestag zu besuchen, sagt Iuliia Frantseva. „Normalerweise legen wir dann ein Brot auf das Grab oder Süßigkeiten“, erklärt die junge Frau. Doch die Zeiten sind nicht normal: Im Heimatland von Frantseva, der Ukraine, tobt seit bald drei Jahren der Krieg. 

Die Angehörigen von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern, die in Deutschland sterben, stellt das oft vor ein Dilemma: Wie kommen sie dem letzten Wunsch des Verstorbenen nach, eine Ruhestätte in der Heimat zu finden und ihre Tradition zu pflegen – obwohl rundherum ukrainische und russische Soldaten kämpfen? Wie können sie dem Toten die letzte Ehre erweisen, ohne sich selbst zu gefährden?

Als Iuliia Frantesvas Großmutter Tetiana vor gut einem Jahr im Sterben lag, muss die Familie eben diese Fragen beantworten. Iuliia Frantseva lebte schon vor Beginn des Krieges im Februar 2022 in Baden-Württemberg, in Karlsruhe arbeitet sie als Künstlerin. Ihre Eltern und Großmutter wohnten noch in Charkiw. Zunächst sei nicht klar gewesen, ob ihre Familie nach Deutschland fliehen muss. „Sie hatten gehofft, dass der Krieg nicht so lange dauert und dass es bald ruhiger werden würde“, erzählt die Karlsruherin. Besonders für ihre 90 Jahre alte Großmutter wurden die Belastungen zu groß. Im Mai 2022, rund drei Monate nach dem Ausbruch des Krieges, entschieden Mutter, Vater und Großmutter, nach Deutschland zu fliehen.

Ukraine-Krieg: Probleme bei Rückführungen für Beerdigungen

In Baden-Württemberg verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Tetiana Frantseva drastisch. „Sie wollte oft nach Hause laufen und verstand nicht, dass sie nicht mehr in der Ukraine ist“, erinnert sich die Enkelin. Die Großmutter stürzte in der Küche, brauchte ein neues Hüftgelenk. „Die Ärzte warnten uns aber vor der Operation, da ihr allgemeiner Gesundheitszustand bereits sehr schlecht war.“ Die Operation gelang, doch konnte Tetiana fortan nicht mehr eigenständig stehen. Die Familie organisierte einen Platz in einem Seniorenheim in Ettlingen. Der Zustand destabilisierte sich. „Meine Großmutter bekam Fieber. Hinzu kam die Hitze im Sommer“, so Iuliia Frantseva. Anrufe von Ärzten bei ihr häuften sich. „Oft hieß es, wir sollen uns darauf einstellen, dass sie es vielleicht nicht bis zum Ende der Woche schafft.“ Vor gut einem Jahr starb Tetiana Frantseva friedlich im Schlaf. Das warf die Frage auf, wie es jetzt weitergehen sollte.  

Die Geschichte von Tetiana Frantseva ist kein Einzelfall. Seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs sind mehr als 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland geflohen, allein in Baden-Württemberg leben 211.000 Geflüchtete aus der Ukraine (Stand Ende 2024). Bundesweite Zahlen und Statistiken zu verstorbenen Geflüchteten gibt es nicht. Der Grund: Der Status als Schutzsuchender wird nicht in den Merkmalen der Sterbefallstatistik aufgeführt, teilt das Bundesamt für Statistik auf Anfrage mit. Die Nationalität „ukrainisch“ wird jedoch erhoben. 2023 starben in Baden-Württemberg 419 ukrainische Staatsbürger, teilt Statistisches Landesamt in Stuttgart auf Anfrage mit. Zum Vergleich: 2021 waren es noch 115. Ein Mitarbeiter des Landesamts sieht in dem sprunghaften Anstieg der Zahlen einen Zusammenhang mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges. Vielen Familien dürfte es also wie den Frantsevas gehen. 

Iuliia Frantseva mit ihrer Großmutter Tetiana. Foto: Privat
Iuliia Frantseva mit ihrer Großmutter Tetiana. Foto: Privat

Nach dem Tod der 93-Jährigen entscheidet sich die Familie: Die sterblichen Überreste von Tetiana Frantseva sollen nach Charkiw überführt werden. Ein nicht ungefährliches Unterfangen: Die Stadt wird immer wieder bombardiert, in der Region liefern sich Truppen hitzige Gefechte. Das war das eine Problem. Das andere: die Bürokratie in Deutschland. „Sechs Monate stand die Urne meiner Oma damals noch in einem Bestattungsinstitut in Karlsruhe, bis wir sie nach Charkiw bringen konnten“, sagt Iuliia Frantseva. Ausnahmen vom Friedhofszwang auf deutschem Boden müssen hingegen behördlich genehmigt werden. 

Auch im Infocenter Friedhöfe in Karlsruhe kennt man das Anliegen gut, erklärt die Mitarbeiterin Simone Maria Dietz. Man habe einige „Beratungen geführt, bei denen klar wurde, dass sich geflüchtete Menschen teilweise für eine Beisetzung in einem Kolumbarium entscheiden, um gegebenenfalls die Möglichkeit einer Überführung in die Heimat leichter umsetzen zu können”, sagt Dietz. Die Asche der Verstorbenen muss zwischengelagert werden. Denn Urnen mit nach Hause zu nehmen, ist in Baden-Württemberg wie in den meisten Bundesländern untersagt. Der Umgang mit Toten unterliegt strengen Regeln, die im Bestattungsgesetz der jeweiligen Länder festgelegt sind. Darin ist zum Beispiel eine Bestattungspflicht vorgeschrieben, ob im In- oder Ausland. Ausnahmen vom Friedhofszwang auf deutschem Boden müssen behördlich genehmigt werden. 

Transport von Verstorbenen ist kostspielig

Von den Vorschriften kann Helmut Ramsaier, Bestatter in Stuttgart, berichten. Die Überführung von Verstorbenen ist nicht erst seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs Bestattern in Baden-Württemberg geläufig. „Sie können davon ausgehen, dass bei fast jedem Flugzeug, das in Deutschland startet, unten ein Verstorbener drin ist“, sagt er. Viele Transporte gehen aus religiösen Gründen nach Griechenland, weil dort der Großteil der Bevölkerung der griechisch-orthodoxen Kirche angehört. Ein Transport mit dem Flugzeug ist kostspielig, die Sargüberführung beginnt bei rund 3500 Euro. Für die Überführung eines Verstorbenen wird ein sogenannter Leichenpass für Sarg-Transporte und ein Urnenpass für den Transport von Urnen benötigt. Gesetze und Auflagen seien von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, sagt Ramsaier. In Baden-Württemberg erstellt diesen Pass das Amt für öffentliche Ordnung. 

Auch Familie Frantseva musste einen Urnenpass für ihre verstorbene Großmutter beantragen. „Schon vor 10 Jahren hat meine Oma den Wunsch geäußert, verbrannt zu werden. Das ist mir im Gedächtnis geblieben”, so Iuliia Frantseva. „Sie hat es damit begründet, dass sie nicht in die Erde will, damit ihr Körper nicht von den Würmern gegessen wird.“ Der unübliche Wunsch von Tetiana Frantseva hat die Überführung in die Ukraine erheblich erleichtert. „Die Situation in Charkiw war angespannt. Meine Eltern haben noch ein halbes Jahr gewartet, bis sie in die Ukraine gefahren sind“, sagt Iuliia Frantseva. Im Winter herrschte nicht nur der Krieg, sondern Schnee und Eis machten die Autofahrt zu einer Herausforderung. 

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Angekommen in Charkiw, gab es keine Trauerfeier. Diese spielt im orthodoxen Glauben sonst eine wichtige Rolle: Der Sarg steht dabei offen, die Angehörigen treten heran, um sich zu verabschieden. In manchen Fällen wird der Verstorbene geküsst. Die Zeremonie dauert bis zu zwei Stunden. Dieser Abschied blieb Iuliia Frantseva und ihren Eltern verwehrt. 

Iuliia Frantseva wird ihre Großmutter als beeindruckende Frau mit einem bewegten Leben in Erinnerung behalten. Tetiana erlebte nicht nur den Zweiten Weltkrieg und baute Charkiw nach Kriegsende aus den Trümmern mit wieder auf. Als Säugling durchstand sie die große Hungersnot im Land, den Holodomor, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Später bekam Tetiana einen Sohn, übte ganz verschiedene Tätigkeiten aus. „Einmal arbeitete sie in einem Warenlager, einmal in einem Kindergarten. Sie hat immer was gemacht“, sagt Iuliia Frantseva. Wie das Andenken dieser besonderen Frau bewahren?

Solange der Krieg wütet, will die Familie von Deutschland aus gedenken. Über Google Maps und die Streetview-Funktion kann der städtische Friedhof mit der Nummer 17, auf dem Tetiana Frantseva beerdigt wurde, angeschaut werden. Ob dort heute immer noch Blumen liegen und viele Holzkreuze und Grabsteine die Hügel zieren, weiß die Familie nicht. Eines ist aber klar, sagt Iuliia Frantseva: „Meine Eltern wollen, sobald der Krieg endet, zurück, um sich um das Grab zu kümmern.“

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