„Ein Jahr Elternzeit als Mann? Damit sind Sie ein Unicorn“

Elternzeit Tochter Vater am Stand Wasser Wer in Deutschland als Mann ein Jahr in Elternzeit geht, gehört zu einer Minderheit. Foto: Irfanshah33/Pixabay

Männer nehmen viel kürzer Elternzeit als Frauen. Väter, die ein Jahr fürs Kind aus ­­dem Job aussteigen, haben immer noch eine Sonderrolle. In seinem Elternjahr hat unser Autor mit seiner Tochter viele Orte erkundet, in denen das Primat der Weiblichkeit herrscht. Man erlebt Überraschendes. Ein Erfahrungsbericht.

Hamburg. Dies ist ein Appell, Texte zu Ende zu lesen, um Unfälle zu vermeiden. Die Website der Familienbildungsstätte kündigte den Kurs »Pilates mit Baby« an. Zuerst schien mir die Idee abwegig, dann gefiel sie mir immer besser. Die Vorstellung, dass meine anderthalbjährige Tochter und ich das erste Mal einen Pilateskurs besuchen und eine kleine Doppelpremiere feiern? Wer erfahren hat, wie wertvoll jede Aktivität mit einem kleinen Kind in der Betreuungswoche ist, freut sich über solche Möglichkeiten.

Yogamatte in einem Arm, Kind im anderen, stehe ich an einem warmen Tag im Altbauflur des Familienzentrums. Ich bin der erste Teilnehmer. Die Pilateslehrerin kommt auf mich zu, mustert mich kritisch und fragt: »Was wollen Sie hier?« Ihr genauer Wortlaut ist mir entfallen, die Botschaft blieb: »Pilates mit Baby« sei ein Rückbildungskurs für Mütter nach der Geburt, um wieder in Form zu kommen und den Beckenboden zu stärken. Ein »Safe Space« für stillende Mütter, daher brauche sie von allen Teilnehmerinnen die Zustimmung, dass ein Mann teilnehmen dürfe.

Am Ende habe ich drei Erkenntnisse gewonnen: 1. Ich sollte Ankündigungstexte bis zum Schluss lesen. 2. Mütter sind locker im Umgang mit dem Stillen (kein Problem mit meiner Anwesenheit). Und 3. Familienbildungsstätten sind Orte, an denen das Primat der Weiblichkeit herrscht. Dies bestätigte auch die Pilateslehrerin, die mich später doch noch warmherzig in die Gruppe aufnahm und davon berichtete, dass Männer die Familienbildungsstätte immer seltener besuchten, obwohl ihnen viele Kurse offenstünden.

Elternzeit: Männer fürchten, dass Auszeit Karriere schadet

Anruf bei Mathias Huebener, Vater von zwei Kindern und Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Nach einer freundlichen Begrüßung lacht er ins Telefon. »Ein Jahr Elternzeit? Damit sind Sie ein Unicorn in Deutschland, eine Seltenheit«, sagt er.

Er und sein Team untersuchten die Fortschritte der ersten 15 Jahre Elterngeld in Deutschland. Huebener forscht zum Engagement von Vätern in der Kindererziehung und betont zwei Punkte. »Was ich im Freundeskreis beobachte, begegnet mir auch immer wieder in unseren Daten, und zwar, dass qualifizierte Frauen den Hauptteil der Care-Arbeit nicht nur für das erste Jahr, sondern lange darüber hinaus übernehmen«, sagt der 37 Jahre alte Volkswirt.

»Interessant, dass Männer denken, die Auszeit könnte der Karriere schaden, und bei Frauen wird das akzeptiert.« Und: Der Wunsch vieler Väter, mehr zu tun, wird durch finanzielle Gründe behindert. »Deshalb wäre die Familienstartzeit so wichtig, die Vätern nach der Geburt zwei Wochen bei voller Lohnfortzahlung ermöglicht«, sagt der Forscher. Doch das Projekt steckt wegen der Haushaltslage in der Ressortabstimmung fest.

Meine Partnerin würde wahrscheinlich sagen, dass ich mich bei der Organisation des Familienalltags noch mehr einbringen könnte, zum Beispiel bei Geschenken für Freunde und Verwandte (Stichwort »Mental Load«). Doch sie schätzt meine Elternzeit.

Zum Glück gibt es bei meinem Hauptarbeitgeber ein modernes Verständnis von Elternschaft: Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass die Auszeit berufliche Nachteile bringt. Nach der Elternzeit kann ich meine Festanstellung ohne Probleme auf 50 Prozent reduzieren. Das hilft.

In vielen Branchen im Jahr 2024 ist die Lage allerdings anders. Ein Ingenieur-Freund sagte beim Bier: »Bei einem Jahr Elternzeit musst du mit Karriereeinbußen rechnen.« Ein anderer Freund: »Ich könnte mir das nicht leisten, für ein ganzes Jahr herauszugehen.« Er meinte damit nicht das Geld, sondern sein Problem, eine so lange Auszeit für das Kind nicht gegenüber Eltern, Freundeskreis und Arbeitgeber rechtfertigen zu können.

Eine Freundin merkte an, was für viele wohl den Ausschlag gibt: »Ein Jahr Elternzeit für jeden von uns könnten wir uns finanziell nicht erlauben.« Dafür sei das Einkommen des Partners zu wichtig, um Kredite zu bedienen, das Familienleben mit Sport und Turnkursen am Laufen zu halten.

Bei der Recherche für diesen Text musste ich an mein Biologiebuch aus der fünften Klasse denken. Ich erinnerte mich, dass ein Orang-Utan oder ein ähnlicher Menschenaffe auf dem Titelblatt war. Drinnen gab es die klassische Typologie der Affen- und Tierarten und ihre Entwicklung über Millionen Jahre.

Wenn man bedenkt, dass der Schimpanse dem Menschen genetisch mehr ähnelt als das Zebra dem Pferd, ist es sehr schlüssig, wie das Bundesfamilienministerium 2022 eine ähnliche Klassifikation in seinem Väterreport  aufgreift. »Im Väterreport wurden fünf Vätertypen identifiziert«, heißt es darin:

  1. Der überzeugte Engagierte (von einer gleichmäßigen Aufgabenteilung überzeugt, engagiert sich entsprechend in der Kinderbetreuung)
  2. Der urbane Mitgestalter (jung, urban und partnerschaftlich eingestellt, übernimmt bei der Kinderbetreuung auch mal mehr als die Partnerin)
  3. Der zufriedene Pragmatiker (hat keine eindeutige Haltung zur Aufgabenteilung, lebt diese jedoch und teilt die Kinderbetreuung oft zur Hälfte)
  4. Der etablierte Konventionelle (beruflich und ökonomisch etabliert, tendenziell eher konservativ eingestellt, daher auch wenig Kinderbetreuung)
  5. Der überzeugte Rollenbewahrer (will und lebt das Familienernährer-Modell, übernimmt wenig Kinderbetreuung und will auch nicht mehr machen).

Bemerkenswert erscheint mir die Verteilung in der Bevölkerung: Der »überzeugte Rollenbewahrer« ist am häufigsten (rund 30 Prozent), während der »urbane Mitgestalter« (rund 10 Prozent) den geringsten Anteil hat. Die anderen Typen halten sich mit je etwa 20 Prozent die Waage.

Elternzeit: Einige Forschungsergebnisse sind ernüchternd

In den Achtzigerjahren gab es diese Vielfalt noch nicht. Als mein Vater mit mir zur Mittagszeit im Kinderwagen durch die Hamburger Elbvororte schob, trafen ihn argwöhnische Blicke, erzählte er mir kürzlich. Wo war die Mutter? Warum kümmerte sie sich nicht? Hatte dieser Vater keine Arbeit, um für die Familie zu sorgen?

Ich vermute und hoffe, dass solche Einstellungen eine Generationenfrage sind. Wenn meine Tochter und ich nachmittags auf den Spielplatz in Hamburg-Winterhude gehen, kann ich viel lernen. Ich weiß, der Vergleich hinkt. Aber zu bestimmten Uhrzeiten, wenn so gut wie nur Mütter dort sind, laufen einige Gespräche so offen ab, wie ich es mir in der Frauensauna oder dem Frauenspa vorstelle.

Männer, die ständig nur arbeiten, werden kritisiert. Es geht um betütelnde Schwiegermütter, Schicksalsschläge, Geldsorgen. Und ja, das Thema Sex kommt auch vor. In einigen Momenten fühle ich mich wie ein unfreiwilliger Spion, Weghören ist nicht möglich, wenn die Tochter gerade zur Plastikschaufel eines anderen Kindes rast und man wieder in eine solche Gesprächssituation knallt. Wirklich.

Vielleicht ist das auch einer der großen Vorzüge am Elternsein: Die Fähigkeit, gemeinsam mit dem Kind die Welt für eine gewisse Zeit auszublenden. Ich glaube, dieses Phänomen bei den Müttern auf dem Spielplatz zu beobachten. Und natürlich auch in meiner Familie: Ich erinnere mich an einen Urlaub im Ferienhaus. Das Fenster stand offen, draußen lief der Vermieter vorbei, und wir sangen drinnen, zum dritten Mal fast mit sich überschlagenden Stimmen »Oh Tannenbaum«, weil unsere Tochter draußen einen Tannenbaum entdeckt hatte und sie das Weihnachtslied liebt. Draußen blühten die Maiglöckchen, wir waren dort im Osterurlaub. Für solche Momente braucht es ein Trinkgelage oder ein Kleinkind.

Etwas ernüchternd erscheint mir ein Forschungsergebnis von Mathias Huebener: Für die Bindung zum Kind und das langfristige Engagement in der Familie ist es egal, ob der Vater zwei Monate oder gar nicht in Elternzeit geht. Erst bei einer längeren Auszeit vom Job lassen sich positive Wirkungen nachweisen. Andere Tierarten machen das, vielleicht aus guten Gründen, anders als wir Menschen. Kurz blitzt wieder der Gedanke an das alte Biologiebuch auf. Ich weiß, man sollte nicht zu biologistisch argumentieren. Dafür unterscheiden den Menschen doch ein paar gute wie schlechte Kulturtechniken vom Affen (Goethe, iPhone, Bubble Tea).

Es ist anstrengend. Schlafmangel wird nicht umsonst von Geheimdiensten als Foltermethode eingesetzt. 

Bei den Menschenaffen, unseren nächsten Verwandten, sucht man vergebens nach monogamen Beziehungen. Feste Paarbeziehungen gehen aber Weißbüschelaffen ein. Bei Wikipedia steht mit Quellenangabe auf eine amerikanische Fachzeitschrift, dass Forscher bei Weißbüschelaffen »altruistische« Tendenzen festgestellt haben. »Ihre Versorgung (Tragen, Säugen) bedeutet einen hohen Energieaufwand für das Weibchen. Die Aufzucht der Jungen ist deshalb nicht nur den Muttertieren überlassen. Alle anderen Gruppenmitglieder, vor allem erwachsene Männchen, kümmern sich intensiv um den Nachwuchs (Helfer-System).«

Das erscheint mir schlüssig, auch wenn es Unterschiede gibt. Weißbüschelaffen haben nicht das Problem, dass die Weibchen fürs Ausräumen der Geschirrspülmaschine keinen Applaus bekommen, während sich die Männchen bei LinkedIn für den nächsten Karriereschritt gegenseitig feiern. Geldsorgen zermartern sie nicht. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass Menschen sich von ihnen etwas abgucken können. Ich jedenfalls würde begrüßen, wenn es mehr von meiner Spezies gäbe.

Natürlich, meine Partnerin und ich sind in einer privilegierten Situation, weil sich unsere Gehälter nicht groß unterscheiden und wir beide Berufe haben, in denen wir uns eine längere Auszeit erlauben können. Es ist aber nicht so, dass Geld bei uns keine Rolle spielt. Unsere Jobs erlaubten es, während der zwei Jahre das Elterngeld aufzupolstern, punktuell zu arbeiten. Erspartes schmolz ab, und wir haben uns finanziell eingeschränkt (ein Tipp: Kundenkarte bei der städtischen Bücherhalle). Alles musste vorher gut durchplant werden.

Aber: Es lohnt sich. Die Beziehung profitiert, weil sich die Partnerin mehr um ihre Belange kümmern kann. »Happy wife, happy life«. Und ja, es ist anstrengend. Schlafmangel wird nicht umsonst von Geheimdiensten als Foltermethode eingesetzt. Aber man wird mit einzigartigen, ersten Momenten des Aufwachsens belohnt.

Meine Tochter nimmt mich mit in ihre Welt. Der alte Škoda Octavia, den wir von meinen Schwiegereltern geerbt haben, ist neuerdings das erweiterte Kinderzimmer. Das Auto steht an der Straße, ich setze mich ans Steuer, die Kleine klettert über die Sitzlehne in den Kofferraum, den wir dringend aufräumen und saugen sollten.

»Komm her, Papa!«, ruft sie nach vorn. Es fängt an zu regnen. Ich steige aus, öffne die Heckklappe und setze mich zu ihr. Die Klappe bleibt offen, und der Regen trommelt darauf wie auf ein Zeltdach. Wir blicken hinaus und erfinden spontan ein Spiel: Ich zeige auf jeden vorbeihetzenden Passanten und frage »Mama?«, sie antwortet jedes Mal mit einem lauten »Neeein!« Wir spielen dieses Pingpong, hin und her, viel zu lang, als dass es nicht albern wäre. Es ist eine reine Gefühlssache, völlig klar, und es ist schwer in Worte zu fassen, aber allein für Minuten wie diese hat sich das Jahr Elternzeit gelohnt. 

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