„Alle gegen alle“, Spaltung, Kampf der Identitäten. Es gibt Auswege. Wie es besser geht, zeigt ein Gedankenexperiment eines der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ein Essay.
Das Urteil der Kollegin klang hart. Ich hatte ihr erzählt, wie ich zuvor mit der Stuttgarter Stadtbahn in die Redaktion gefahren und nur knapp einer peinlichen Situation entgangen war: Ein Kontrolleur schritt durchs Abteil, prüfte die Fahrkarten, ich nickte ihm freundlich zu, er grüßte zurück und ging vorbei, ohne nach meinem Ticket zu fragen. Für mich war das ein glücklicher Zufall, weil ich die Monatskarte noch nicht gekauft hatte. Für meine Kollegin sah die Sache anders aus: „Das ist positiver Rassismus“, sagte sie. Einer nicht-weißen Person wäre das nicht passiert.
Das ist ein paar Jahre her. Ich hatte den Begriff damals das erste Mal gehört. Die Kollegin meinte das nicht als Kritik an meiner Person, eher als allgemeinen Hinweis auf eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Mit einem Satz waren wir inmitten des aufgeheizten Kampffeldes der Identitätspolitik. Wer genießt welche Privilegien und warum, wer wird diskriminiert oder hat Vorteile? Mit den nächsten 839 Wörtern werde ich versuchen zu beschreiben, wie die wichtige Diskussion um real existierende Ungerechtigkeiten auf eine sachlichere Ebene gebracht werden kann. Es soll eine Einladung zu einem Gedankenexperiment sein.
Identitätspolitik versieht jeden mit Etikett
Um die Vorteile dieses Gedankenspiels deutlicher zu machen, müssen kurz die Probleme benannt werden. Die Identitätspolitik spaltet, versieht jeden Sprecher mit einem Etikett, das die Person auf diese Eigenschaft zu reduzieren droht. Die Schriftstellerin Eva Menasse bringt es auf den Punkt, wenn sie mit Blick auf die digitale Massenkommunikation von einer gefährlichen Eindeutigkeit spricht, die den Menschen ihre Rollen und ihre Identitäten gegen deren Willen zuweist und ihnen die „Vieldeutigkeit, ihre ungeordnete, ausgefranste Menschlichkeit“ abschneidet (Eva Menasse: Alles und nichts sagen. Kiepenheuer & Witsch. *Werbepartner) Menasse verknüpft die Absurdität einer fehlgeleiteten Identitätspolitik mit ihrem eigenen Jüdischsein. „Wer selbst kein Jude sei, könne nicht wissen, wie man sich als solcher fühlt“: Dieser Satz widerspreche allen Annahmen von Empathie und Erfahrungstransfer, auf denen Zivilisation beruhe, stellt sie fest. Im Kern bedeutet das: Nicht was gesagt wird, ist wichtig, sondern wer etwas sagt. So werden gesellschaftliche Gräben aufgerissen, Freund-Feind-Denken gefördert. Dass darin ein Problem besteht, will man vernünftig miteinander umgehen, liegt auf der Hand.
Wie geht es also besser? Einen Weg weist der einflussreiche amerikanische Philosoph John Rawls (1921-2002). Seine „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) prägte liberale Demokratien weltweit, sie hat Disziplinen wie Ökonomie, Rechts- und Politikwissenschaft beeinflusst und der politischen Philosophie, wenn man so will, einen Nutzwert gegeben (John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp. *Werbepartner) Als praktisches Werkzeug, um die eigenen politischen Einstellungen zu prüfen, führt Rawls die Idee von einem „Schleier des Nicht-Wissens“ ein. Das Gedankenexperiment zu der Metapher: Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht der Mensch, der Sie sind, sondern befinden sich in einer Art Urzustand vor der Gründung einer zukünftigen Gesellschaft. Sie sind ein unbeschriebenes Blatt. Sie wissen nicht, ob Sie arm oder reich sein werden, Mann oder Frau, nichts über ihre sexuelle Orientierung oder Hautfarbe, nichts über Ihre Identität. Unter diesem „Schleier des Nicht-Wissens“ sollen Sie sich nun über die Grundprinzipien des Zusammenlebens verständigen und diese festlegen. So sollen faire Prinzipien und Regeln entwickelt werden, die für alle akzeptabel sind. Zu welchen Schlüssen würden Sie kommen? Praktisch gefragt: Sollen homosexuelle Paare heiraten können, Frauen weniger als Männer verdienen oder ist das „Dienstwagenprivileg“ für einige wenige in Ordnung?
John Rawls spricht von zwei Gerechtigkeitsprinzipien
Der „Schleier des Nicht-Wissens“ soll zu möglichst vernünftigen und gerechten Entscheidungen führen. Wichtig ist vor dem Hintergrund der Identitätspolitik die sogenannte Maximin-Regel: Rawls argumentiert, dass eine Gesellschaft am gerechtesten ist, wenn es den am schlechtesten gestellten Menschen noch am besten geht („Maximin“: Es geht darum, das soziale Minimum zu maximieren). Für gewöhnlich würden sich Menschen unter dem „Schleier“ für diese Übereinkunft aussprechen, denn jeder könnte ja in die Situation einer benachteiligten Minderheit kommen.
John Rawls leitet davon in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ zwei zentrale Gerechtigkeitsprinzipien ab. Das erste Prinzip: Grundlegende Rechte und Freiheiten sollten allen Menschen gleichermaßen zustehen (z.B. das Wahlrecht, die Rede- und Versammlungsfreiheit, persönliche Freiheit und Eigentum). Und die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das zweite Prinzip: Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind nur dann gerecht, wenn die am schlechtesten gestellten Mitmenschen davon in einer Weise profitieren (etwa: Höhere Einkommen führen zu mehr Steuern, die wiederum Sozialprogramme und öffentliche Dienstleistungen finanzieren). Ungleichheiten können außerdem gerechtfertigt sein, indem sie einen Anreiz für Produktivität und Innovation in einer Gesellschaft fördern (z.B. medizinische Durchbrüche nutzen allen). Kurzum, Ungleichheiten sind legitim, wenn sie unter fairen Bedingungen entstehen und letztlich allen Mitgliedern der Gesellschaft, besonders den Schwächsten, zugutekommen. Das sei besser als eine Gesellschaft, in der zum Beispiel die Einkommen im Durchschnitt näher beieinander liegen, Geringverdiende aber weniger zu Verfügung haben.
Interessant erscheint Rawls‘ Theorie als „Anti-Identitätspolitik“. Sie lädt dazu ein, das Gemeinsame zu betonen. Ihre Grundlage ist die philosophische und ethische Sichtweise des Universalismus. Dieser geht davon aus, dass bestimmte Prinzipien, Regeln und Werte für alle Menschen gelten sollten (z.B. die universellen Menschenrechte). Die Denkschule hatte es nicht leicht in den vergangenen Jahren: Die Perspektive sei zu einseitig, nur auf unseren europäischen, westlichen Blick beschränkt. Werte und Normen seien auch immer kontextabhängig und je nach Kultur unterschiedlich, kritisieren Identitätspolitik-Aktivisten. Sie sehen im Universalismus zudem eine verkappte Herrschaftsideologie, die Machtpositionen zementiere und die Interessen von Minderheiten ausblende. Überspitzt formuliert: Die von alten, weißen Männern erdachten Regeln nützen vor allem einer Gruppe. Alten, weißen Männern.
Sie sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen: In einer Gesellschaft, die die Gleichheit aller Menschen als reines Machtkalkül diskreditiert, gibt es für die Mehrheit keinen übergeordneten Grund, sich für Minderheiten einzusetzen. Warum noch Geflüchtete unterstützen? Angela Merkel würde darauf wohl mit ihrem Satz reagieren: „In einem solchen Land will ich nicht leben.“
Tatsächlich kann der universalistische Ansatz von Rawls‘ Theorie ein Hebel sein, Ungerechtigkeiten gemeinschaftlich zu beseitigen. Das uneingelöste Gleichheitsversprechen liefert den Anreiz, es besser zu machen. Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak, eine Koryphäe auf dem Gebiet der postkolonialen Theorie, sagt: Jeder Kampf gegen kulturelle Diskriminierung sei in Wirklich ein Kampf für sozialen Aufstieg. Letztendlich muss das Ziel sein, das Soziale stärker zu gewichten als das Kulturelle.
Am Ende bleibt die Frage nach der Umsetzbarkeit und Realitätsnähe. Das sind doch alles schöne Luftschlösser, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Rawls‘ „Schleier“ schafft eine Grundlage, einen idealen Maßstab, an dem man Positionen ausrichten kann. Sein Gedankenexperiment liefert Leitplanken, die in der aufgeheizten, politischen Debatte neuen Halt geben können. Das ist ein sehr guter Anfang.