35 Jahre Mauerfall: „Meine Generation kann ein Vorbild sein“

Trabis aus der DDR. Foto: Adobe Stock / filmbildfabrik Trabis aus der DDR. Foto: Adobe Stock / filmbildfabrik

Die Mauer ist seit 35 Jahren weg, die Vorurteile von „Ossis“ und „Wessis“ bestehen weiter. Wer früh in den Westen ging, wie unsere Interviewpartnerin Karolin, fühlt sich bei Besuchen in der Heimat um Jahrzehnte zurückversetzt. Sie hat gelernt, sich darüber hinwegzusetzen und nach vorne zu schauen. Hier spricht sie über den Schock des AfD-Aufstiegs in den neuen Bundesländern und die Hoffnung, dass ihre Kinder zu einer neuen „Generation Wiedervereinigung“ gehören, für die Vorurteile von heute der Vergangenheit angehören.

Sie sind in dem kleinen Ort Harbke bei Helmstedt nahe der Grenze aufgewachsen. Was sind Ihre frühesten Erinnerungen?

Die Grenze zwischen Ost und West war für mich etwas ganz Normales. Mein Vater war Gruppenführer bei den Grenzern, deshalb durfte seine Familie im Sperrgebiet wohnen. Mit ihm bin ich oft im grünen Bulli an der Grenze entlanggefahren. 500 Meter von meinem Elternhaus entfernt war die Kaserne meines Vaters. Er war jeden Tag zu Hause. 

Hat er mit Ihnen später über seine Arbeit gesprochen?

Er hat mir erzählt, dass er Angst hatte, zur Waffe greifen zu müssen, wenn er eine Flucht beobachtet hätte. Das hat ihn geprägt. Denn wenn er nicht geschossen hätte, hätte er den Rest seines Lebens woanders verbringen müssen. Aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Meine Kindheit war völlig frei. Ich konnte hinausgehen, wann ich wollte, wohin ich wollte und wie lange ich wollte. Ich habe mit meinem Bruder und den Nachbarskindern im Wald gespielt, wir haben Buden gebaut oder sind durchs Dorf gezogen, haben in der Kaufhalle oder im Konsum eingekauft. Das ganze Dorf passte auf uns auf, niemand musste sich Sorgen machen. 

Erinnern Sie sich noch an den 9. November 1989, als die Mauer fiel?

Wir saßen nicht vor dem Fernseher, sondern plötzlich hieß es in der Familie: „Wir gehen jetzt zum Papa“, also zur Grenze. Da standen dann viele Bewohner aus Harbke und haben sich einfach gefreut, gefeiert und gejubelt.

Wie verliefen die nächsten Wochen?

Die Dorfstraße erstickte unter dem neuen Verkehr. Es gab jetzt sehr viele Autos mit westdeutschen Kennzeichen. Wir fanden das so spannend, dass wir am Haus saßen, Autos gezählt haben und die Kennzeichen notierten. Die Fremden veränderten unser Leben. Plötzlich hatten wir nicht mehr den ganzen Tag frei, sondern mussten zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Manchmal stiegen die Westdeutschen aus, schauten sich alles genau an, es war ein bisschen wie im Zoo. Es gab ein neues Schlagwort: ‚Aufpassen‘. Früher standen die Haustüren offen, jetzt wurden sie abgeschlossen. Wir waren auf diesen neuen Strom nicht vorbereitet und mussten uns umstellen. Im Laden gab es plötzlich viel mehr Produkte, das sorgte bei den Älteren für Verwirrung. Dann wurde die Hauptstraße asphaltiert.  Für uns Kinder bedeutete das, dass wir nicht mehr wie früher dort spielen konnten, denn mit dem Asphalt nahm auch die Geschwindigkeit der Autos zu. Auf dem jährlichen Jahrmarkt, der bisher aus einem Karussell und zwei Schießbuden bestand, gab es einen Autoscooter. So etwas hatten wir noch nie zuvor gesehen. Es verunsicherte. Die alte Gemütlichkeit, immer das Gleiche vorzufinden, schwand. Stärker traf mich, wie sich die Gemeinschaft veränderte.

Inwiefern?

Ich erinnere mich an fröhliche Silvesterfeiern mit der ganzen Nachbarschaft. Nach der Wiedervereinigung fehlten plötzlich einige. Man hat sie nie wieder gesehen. Ich vermute, das hing mit ihrem Dienst bei der Staatssicherheit zusammen. Im Nachhinein war das ein schales Gefühl, weil es bedeutete, dass wir einen fröhlichen Silvesterabend mit Leuten feierten, die uns wahrscheinlich bespitzelt hatten. Das war sehr verletzend, weil man diesen Leuten vertraut hat. Sie waren mit meinen Eltern befreundet, wir haben mit den Kindern gespielt und plötzlich waren sie nicht mehr da. Das war schon einschneidend. Als Kind musste ich plötzlich viel verstehen lernen.

Karolin Rauh. Foto: Reporterdesk
Aufgewachsen in der DDR: Karolin Rauh. Foto: Reporterdesk

Was ist aus Ihrem Vater nach der Wende geworden?

Er wurde Schlosser und war viel auf Montage.

Hat er das als Strafe empfunden?

Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, er hat seinen Frieden damit gemacht. Aber auch er war wohl auf diese vielen Veränderungen nicht vorbereitet, glaube ich.

Wie veränderte sich der persönliche Lebensstandard?

Wir hatten bald ein anderes Auto, einen roten Skoda. Meine Eltern hatten ihn bestellt es dauerte ewig, bis er kam. Wir Kinder haben unsere Eltern Löcher in den Bauch gefragt, wann es denn endlich kommt. Bis dahin hatte meine Mutter viele meiner Kleider genäht. Damit war es vorbei. Plötzlich gab es Pullover mit einer Micky Maus vorne darauf. Da musste ich erst mal lernen, wer die Mickymaus ist. In den 90er Jahren wurde das erste Asylbewerberheim eröffnet. Man kann sich gar nicht vorstellen, welcher Hass herrschte. Als einige Wohnungen im Ort bezogen wurden, hieß es überall „Ausländer raus“ und die Bushaltestellen wurden mit SS-Runen beschmiert. Deshalb wollte ich auch schnell weg. Ich habe mich nicht mehr wohlgefühlt mit diesem `Früher war alles besser` – Getue. Ich wollte über den Tellerrand hinausschauen. Ich war das erste Mädchen mit pinken Haaren. Ich war anders. 

Was hat den Ausschlag gegeben, den Ort zu verlassen?

Die Schule. Ich blieb zweimal sitzen, nicht weil ich dumm war, sondern weil ich keine Lust auf das ganze Schulsystem hatte. Im Osten galt noch die Maxime: Ich bin der Lehrer, du bist der Schüler und hast zu tun, was ich will.  Also bin ich mit 14 von der Schule geflogen. Es gab die Möglichkeit, nach Oschersleben auf eine Schule zu gehen, aber dann hätte ich ewig mit dem Bus fahren müssen und wäre wieder im gleichen System gelandet. Also haben wir uns für Helmstedt im Westen entschieden. Die Schule war super, ich habe sofort gespürt, dass ich hier als Individuum gesehen werde und nicht als Glied einer Kette. Meine Mutter hat mir dort eine Wohnung gemietet.

Mit 14 Jahren allein in der Stadt?

Es war abenteuerlich, aber ich habe schnell gelernt, mich durchzusetzen. Ich habe direkt neben der Schule gewohnt, in den Pausen sind wir zu mir gegangen oder durch die Stadt geschlendert. Statt in den Konsum gingen wir ins „Minimal“, das war schon eine Erfahrung der besonderen Art. Meine Mutter kam zwar regelmäßig zu Besuch, aber ich musste mich selbst versorgen. Das ging besser als zu Hause. Nach der neunten Klasse habe ich die Schule mit einem guten Zweier-Durchschnitt abgeschlossen und konnte mich danach gut bewerben. Ich habe viele Freundschaften geschlossen, mich aber auch schnell von denen getrennt, die mich nur ausnutzen wollten, weil ich eine eigene Wohnung hatte und die nur fernsehen, abhängen oder mein neues Handy benutzen wollten. Da lernt man schnell, was ehrlich gemeint ist und was nicht.

Gab es Situationen, in denen Sie daran gedacht haben, nach Harbke zurückzukehren?

Nein. Im Gegenteil: Ich wollte eigentlich noch weiter weg, weiter in den Westen und habe mich nach dem Schulabschluss in mehreren Städten beworben. Dass ich dann mit 17 Jahren in Braunschweig als Kinderpflegerin angenommen wurde, war Zufall. Zwischen meinem 17. und 24. Lebensjahr bin ich nur für Kurzbesuche nach Harbke zurückgekehrt.

Mit 19 Jahren sind Sie Mutter geworden, heute haben Sie zwei Kinder. Wie ist das Verhältnis zu den Vätern?

Ganz unkompliziert. Ich fühle mich nicht als alleinerziehende Mutter, weil ich zu beiden Vätern ein gutes Verhältnis habe. Es ist nicht so wie in einer normalen Familie, aber wir fühlen uns alle wohl, der erste Vater hat sogar bis vor zwei Jahren mit mir hier auf dem Hof gewohnt.

Kommen ihre engsten Freunde aus dem Osten oder aus dem Westen?

Aus dem Westen. Aber das liegt daran, dass sich mein Leben hier abspielt. 

Welche Vorurteile stören Sie besonders?

Die blöde Frage, ob ich Bananen zu essen hatte, von den Westdeutschen. Schlimmer aber ist das Märchen vom reichen Westen und dem armen Osten. Das steckt immer noch in vielen Köpfen der ehemaligen DDR-Bewohner. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich an diesen dummen Vorurteilen etwas geändert hat. Wenn ich nach Harbke zurückkomme und dort Bekannte treffe, heißt es auch heute noch: „Du bist doch sowieso ein Wessi, du bist doch sowieso voll Bonze“, weil ich mich bewusst für den Wechsel entschieden habe.

35 Jahre nach dem Mauerfall hat sich da nichts geändert?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals aufhören wird. Sogar meine zehnjährige Tochter fragt mich: `Was bin ich eigentlich? Du kommst doch aus dem Osten, Mama`.

Haben Sie wenigstens versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen?

Vor zehn Jahren, als ich noch grün hinter den Ohren war, bin ich in jede Diskussion gegangen. Ich sagte: `Bei uns gibt es diese Unterscheidung gar nicht mehr! Unsere Generation kann das aufbrechen`.  Aber es ging nicht. Die können das nicht sehen. Viele leben immer noch in der DDR. Das ist einfach so. Vor sechs Jahren habe ich über die Titulierungen `Ossi und Wessi` gelacht. Jetzt rede ich nicht mehr darüber, weil es mir einfach zu blöd ist.

Kann man dem Thema nicht ausweichen?

Nein. Es fängt schon mit den Begriffen an. Ich nenne es Wasser. Sie nennen es Selters. `Ja, du bist ein Wessi`, heißt es dann. 

Wie erklären sie sich diese Hartnäckigkeit?

Es ist das Bild, das sie von ihren Eltern vorgelebt bekommen haben oder immer noch bekommen. Würden sie sich verändern, müssten sie damit zugeben, dass die Eltern Unrecht hatten. Das ist so traurig, weil die Leute in meinem Alter sind. Sie könnten in die Welt gehen und sich vom Gegenteil der alten DDR-Denkart überzeugen.

Knapp 35 Jahre nach Ihrer Geburt ist die AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stärker als je zuvor. Wie erklären Sie sich das?

Ich habe dafür keine Erklärung, ich fühle mich ohnmächtig und habe Angst. Die Menschen in Deutschland müssten in den zurückliegenden 100 Jahren eigentlich genug gelernt haben, was extreme Parteien angeht, aber dem ist offenbar nicht so. 

Diese Partei wird offenbar auch stark von jungen Menschen gewählt. Was könnten die Gründe dafür sein?

Man hat in jeder Form zu wenig in die Jugend und Kinder investiert, nicht über die Hintergründe der AfD aufgeklärt. Nun wählen sie den Protest und wollen sich damit von den alten Bildern der konservativen Politik lösen. 

Hätte die Wiedervereinigung Ihrer Meinung nach besser laufen können?

Vielleicht wäre es gut gewesen, das Ganze nicht in einem so wahnsinnigen Tempo zu machen und an die Identität der Menschen zu denken, die 20, 30 Jahre im DDR-System gelebt haben und völlig umlernen mussten, um nicht abgehängt zu werden. Das ist nicht gelungen. Diese Menschen sind bis heute nicht abgeholt worden. Aber für die Jüngeren gilt: Jeder hatte seine Chance. Und sie haben sie immer noch. Meine Generation kann Vorbild sein und ihren Kindern mitgeben, dass wir ein vereintes Deutschland sind. Das es Ossis und Wessis in Zukunft irgendwann nur noch in Geschichten gibt und mit der Wiedervereinigung eine schlimme Zeit ihr Ende gefunden hat. Blicke ich auf mein Leben zurück, bereue ich nichts. Im Gegenteil: Ich würde alles genau so wieder machen.

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