Holocaust auf TikTok: Mit Reichweite gegen das Vergessen

Susanne Siegert Leipzig TikTok Erreicht auf TikTok viele junge Menschen: Susanne Siegert. Foto: Martin Neuhof

Leipzig. Kann man auf einer Plattform wie TikTok erfolgreich über den Holocaust aufklären? Die 31-Jährige Susanne Siegert aus Leipzig beweist es mit ihrem Kanal „keine.Erinnerungskultur“ quasi im Alleingang. In kurzen Clips bringt sie einem jungen Publikum die Grauen der NS-Zeit nahe, liest aus Originaldokumenten und erzählt von Einzelschicksalen aus den Konzentrationslagern. Viele ihrer Videos haben mehr als eine Million Aufrufe, ihr Account sammelte bald zehn Millionen Likes ein. Eine ungewöhnliche Entdeckung hat die studierte Marketingmanagerin, die ihre Geschichtsforschung ehrenamtlich betreibt, auf diesen Weg gebracht. Was motiviert sie, die Schrecken des Holocaust in 90-sekündige Kurzvideos einzubetten?

Frau Siegert, warum gehört die Erinnerung an den Holocaust auf TikTok?

Weil auf dieser Plattform sehr viele junge Menschen unterwegs sind. Von meinen 194.000 Followern ist die Hälfte unter 25 Jahre alt. Viele Politiker haben ebenfalls das Ziel diese Bevölkerungsgruppe zu erreichen – gerade vor Wahlen. Aber dann muss man diese Themen auch dort platzieren, wo jüngere Menschen sind und sehr, sehr viel Zeit verbringen. Also TikTok und Instagram.

Das hört sich so an, als ob in diesem Bereich eine Menge Luft nach oben ist?

Auf jeden Fall. Denn wie sieht die Ansprache zum Nationalsozialismus heute üblicherweise aus? Wenn junge Menschen über das Thema Holocaust lernen, geschieht das meist im Korsett des Schulunterrichts mit Besuchen in Gedenkstätten. Da heißt es dann: Freitag geht es in die Gedenkstätte, egal ob du dazu in der Lage bist oder nicht. Bei Videos auf TikTok kann man dazu in Ruhe zehnmal weiterscrollen, aber beim elften Video funktioniert es vielleicht und das Interesse wird geweckt.

Bekommen Sie das durch Antworten auf Ihre Videos gespiegelt?

Viele junge Menschen bekommen durch meine Videos den Impuls, über Orte in Ihrer Nähe zu recherchieren. Das ist für mich das schönste Feedback. Etwa, wenn sie mir schreiben `Hey ich habe jetzt eine Anfrage im Bundesarchiv über meine eigene Familie gestellt`. Oder: `ich habe jetzt auch angefangen bei mir im Ort zu recherchieren`.

Sind die Videos auch für Sie persönlich ein Weg, Verantwortung im Land der Täter zu übernehmen?

Ein Stückweit. Aber ich mache diese Videos auch aus eigenem Interesse, weil ich so viel darüber lerne und diesen Prozess gerne mit anderen teilen möchte. Wenn ich damit Interesse, Empathie oder den Wunsch, zu recherchieren, auslöse, ist das etwas Wunderbares.

Sie sind im bayerischen Burghausen, nahe der österreichischen Grenze, geboren und wurden katholisch erzogen. Wie weit hat diese Erziehung ihr Leben geprägt?

Gar nicht. Es gehört in Bayern einfach dazu, dass man getauft und gefirmt wird. In meiner Familie zählte der Gemeinschaftsgedanke. Inzwischen bin ich aus der Kirche ausgetreten.

Warum?

Ich hatte irgendwann einfach keine Verbindung zur Kirche und ihrem Glauben. Und warum soll man etwas unterstützen, zu dem man keinen Bezug hat?

Können Sie sich noch an Ihre erste Berührung mit dem Nationalsozialismus erinnern?

Mit neun Jahren schrieb ich in meinem Tagebuch: `Zurzeit lese ich das Tagebuch der Anne Frank, die Geschichte der Zeit, in der die Juden nur aufgrund ihres Glaubens von den Deutschen verfolgt wurden. Sie und ihre Familie konnten sich mit acht anderen im Hinterhof eines Hauses in Holland verstecken. Ich finde, davon sollte jeder wissen, damit so etwas nie wieder passiert`. Es war also schon früh meine Absicht, mich damit auseinanderzusetzen.Dabei blieb es allerdings erst einmal, obwohl ich mit der Schule die KZ-Gedenkstätte Dachau besucht habe, später auch Mauthausen und Auschwitz. Aber da blieb nicht so viel hängen – vielleicht, weil es angeordnet wurde, egal ob man wollte oder nicht.

Trotzdem gab es eine Initialzündung?

Als ich 28 Jahre alt war, besuchte ich zum ersten Mal das ehemalige KZ-Außenlager Mühldorfer Hart. Ausgerechnet Mühldorf.

Wieso?

Der Ort liegt nur etwa 20 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Er war bis dahin für mich eine absolute Idylle aus Kinder- und Jugendtagen. Im Mühldorfer Bahnhof stieg man um, wenn man aus München kam und nach Hause wollte. Es gab einen schönen Stadtplatz, den ersten H&M-Laden und im Sommer sind wir in Tracht zur Kirmes nach Mühldorf gefahren. Dieser Frieden war mit dem neuen Wissen mit einem Schlag weg.

Wie erklären Sie sich, dass offenbar keiner davon wusste?

Diese Frage stelle ich mir heute noch. Vermutlich liegt es daran, Dass man an Gedenkorten wie Dachau für Besuche von Schulklassen auf andere Strukturen zurückgreifen kann.

Welche technische Funktion hatte das Lager?

Es war eines der größten Außenlager des KZ Dachau. Um die Häftlinge auf den großen Baustellen der Nazis einzusetzen, hat man dort eine eigene Kommandostruktur errichtet. Die Hälfte der Insassen hat nicht überlebt. Wer an der sogenannten Hauptbaustelle des Lagergeländes zur Zwangsarbeit eingeteilt war, hatte eine Lebenserwartung von unter zwei Monaten.

Wie viel ist heute von dem ehemaligen Lager übrig?

Sehr wenig. Es liegt in einem Waldgebiet. Dort laufen heute viele Jogger, Familien sind mit ihren Kindern unterwegs. Doch blickt man genauer hin, entdeckt man im Boden Mulden, an denen die damaligen Häftlingsunterkünfte lagen. Man kann sogar sehen, wo Erhöhungen für die Schlafpritschen waren. Auch der Weg vom Lager zur Hauptbaustelle, dem Arbeitseinsatz vieler Häftlinge, ist noch der gleiche. Nur mit dem Unterschied, dass dort heute Spaziergänger unterwegs sind.

Sie waren in Dachau und Auschwitz – wieso hat sie dieses Lager so berührt?

Weil es praktisch neben meiner Haustür lag und ich nichts davon wusste. Es ist ein Ort, der mit meinen eigenen Erwartungen gebrochen hat, also habe ich mich an die Arbeit gemacht und seine Geschichte recherchiert. Ich habe die Stimmen der Zeitzeugen im Ohr, wenn ich durch den angeblich so idyllischen Wald gehe. Das gibt es für mich an keinem anderen Gedenkort. Ich will auf die Menschen, die dort leben und sterben mussten, aufmerksam machen und ihnen ihre Geschichte zurückgeben.

Ist diese Recherche mit Schmerz verbunden?

Ja, allerdings ist es für mich ein belohnendes Gefühl, ein Stück weit zu wissen, dass dieser Name eines Häftlings lange Zeit nicht mehr genannt wurde, weil vielleicht keine Angehörigen von ihm mehr am Leben sind und ich ihm ein kleines Denkmal setzen kann.

Wie kam es zu dem Entschluss, ihre Aufarbeitung der NS-Lager zu einer ehrenamtlichen Aufgabe zu machen?

Wenn ich heute am Bahnhof Mühldorf ankomme, denke ich an das Jahr 1945, als er bombardiert wurde und die Häftlinge aus dem nahen Lager kommen mussten, um die Trümmer wegzuräumen und erschossen wurden, wenn sie ein Stück Brot aufgehoben haben. Es färbt ab, wenn man die wahre Geschichte solcher Orte sieht, obwohl sie keine Gedenkstättenfunktion haben. Dieses Beispiel möchte ich mit anderen teilen. Auch im Alltag sollte man sich bewusst sein, über welchen Grund man gerade läuft. Deshalb habe ich angefangen, auf Instagram, TikTok und in einem Podcast über das KZ-Außenlager Mühldorfer Hart zu sprechen.

Haben Sie auch im Familienkreis recherchiert?

Bei mir war es eher umgekehrt. Ich habe zuerst aus der Opferperspektive recherchiert. Das geht in Online-Archiven – ähnlich einer Google-Suche – in Sekunden. Ich nutze natürlich auch Google, aber eigentlich vor allem Online-Archive wie die Arolsen Archives. Man kann blitzschnell herausfinden, wie die Verfolgten heißen, wie alt sie waren, wo sie gelebt haben, man kann alles zurück recherchieren, bis zur physischen Adresse. Andersherum, also aus der Täter-Perspektive, war es sehr schwer, mehr herauszufinden.

Warum?

Man muss dafür eine Anfrage an das Bundesarchiv stellen, es dauert sehr lange, kostet Geld, bis man vielleicht ein Dokument erhält. Das ist ein merkwürdiges Missverhältnis: Bei Archiven, die die Verfolgten auflisten, gibt es zwar einen Datenschutz, der Erkenntnisgewinn wiegt aber schwerer. Deswegen werden die

Dokumente freigegeben. Wieso geht das nicht bei Archiven mit den Namen der Täter?

Das Bundesarchiv sagt zwar, es wird alles irgendwann einmal online zugänglich sein, aber es ist schon auffällig, wie groß die Unterschiede zwischen Opfern und Tätern online sind. Aber so habe ich erfahren, dass mein Großvater in Lemberg stationiert war. Dort gab es ein Pogrom gegen Juden, doch ob er dabei war, konnte ich nicht erfahren.

Auf welche Weise wird der Holocaust für Sie persönlich fassbar?

Wenn ich ihn aus dieser unvorstellbaren Zahl von über sechs Millionen getöteten Juden auf ein Einzelschicksal herunterbreche, das mich berührt. Etwa das Schicksal eines Häftlings, der sterben musste, weil er seine Decke zerschnitt. Oder durch Illustration der Lebensumstände: In den Vierzigerjahren wurden Menschen verhaftet, wenn sie ein Fahrrad besessen haben, weil das für Juden und Jüdinnen nicht erlaubt war. Sie durften keine Haustiere mehr besitzen, selbst von kleinsten griechischen Inseln wurden sie mühsam bis Deutschland transportiert und schließlich in die Züge nach Auschwitz gesetzt – eine gigantische Logistik, nur um sie umzubringen. Ruft man sich das einmal konzentriert in Erinnerung, lässt es wohl keinen unberührt.

Soll sich ihrer Meinung nach das Gedenken nicht nur auf die bekannten Orte verlassen?

Ja, denn wir haben oft nur einzelne Orte und Opfergruppen im Kopf, aber es muss auch die große Maschinerie gezeigt werden und damit auch die Tatsache, dass, um diese Maschine am Laufen zu halten, so viele Menschen beteiligt gewesen sein mussten, dass man nicht mehr davon sprechen kann, dass es keiner wusste.

Wie wählen Sie Ihre Protagonisten für das nächste Video aus?

Entscheidend ist, was mich berührt und bewegt. Manchmal sind es Zufallsfunde in Online-Archiven, es machen mich aber auch Zuschauer auf Dinge aufmerksam. Daraus entstehen dann Themen, wie etwa die Tatsache, dass in Albanien von Muslimen Juden und Jüdinnen aufgenommen worden sind. Für die albanischen Communitys in Deutschland ist das eine wichtige Information.

Sie erzählen von Menschen, die vielleicht bis zu dieser Veröffentlichung keiner kannte. Spürt man eine Verantwortung, das Schicksal eines Toten öffentlich zu machen?

Ich würde da nicht von Verantwortung sprechen. Es ist eher ein schönes Gefühl, dass ich auf diese Weise noch einmal an die Person erinnern kann. Wer weiß, wann jemand zum letzten Mal dieses Dokument gelesen hat oder diesen Namen ausgesprochen hat? Er wird dann einen kleinen Moment lang, solange das Video läuft, aus dem Vergessen geholt und sichtbar gemacht.

Wieso heißt ihr Kanal `keine.Erinnerungskultur`?

Ich mag den Gedanken von Jens Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätten Buchenwald, Mittelbau Dora. Er sagte, dass es eigentlich falsch ist, von erinnern zu sprechen, weil man sich nur an etwas erinnern kann, was man persönlich miterlebt hat. Deshalb: nicht mehr Erinnerungskultur, hin zu anderen Begriffen, wie beispielsweise Gedenkarbeit. Das ist ein aktiver Begriff, weil es allen zeigt, dass Arbeit darin steckt, dass wir alle etwas dazu machen müssen.

Wie sehen Sie Ihre Eigenverantwortung als nachfolgende Generation?

Ich denke, wir haben alle die Verantwortung, uns als stärkere Akteurinnen der Gedenkarbeit zu begreifen. Das bedeutet aber auch: Man muss sich nicht andauernd dazu äußern. Einige Politiker sollten sich weniger oder gar nicht dazu äußern, weil ihre Rolle nur stattfindet, weil sie irgendwelche Ämter haben und sich dann zu Bundestagssitzungen, wie etwa dem 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Holocaust, dazu äußern müssen. Ich denke, Verantwortung von uns allen bedeutet, sich als Akteure und Akteurinnen von Gedenkarbeit zu begreifen, um die eigene Verantwortung zu begreifen.

Wie gehen Sie mit Anfeindungen um?

Ich muss sagen, dass mich das meiste nicht so sehr trifft. Meine Zeit ist mir zu wertvoll, um mich darüber zu ärgern.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, das Format zu ändern?

Nein, denn ich möchte Menschen erreichen, die vielleicht nur ein Basiswissen haben, wie ich.

Gibt’s auch ein Feedback von anderen Einrichtungen?

An einigen Schulen werden meine Videos zum Thema Holocaust genutzt. Dann schreiben mir junge Leute: `Hej, heute haben wir im Geschichtsunterricht ein Video von dir geguckt`. Das gefällt mir super, auch weil man damit das Format TikTok nicht als belanglose App verurteilt und mit Klischees bedient, was absolut nicht der Wahrheit entspricht. TikTok nimmt die Lebenswelt von jungen Menschen ernst. Es ist doch ein großer Vorteil, wenn man durch TikTok Fragen von 17-Jährigen oder 20-Jährigen gestellt bekommt, die man sonst nie erreichen würde. Vor allem, weil sich diese Fragen sehr von denen unterscheiden, die 30-Jährige stellen.

Hätten Sie Lust, mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ihr Projekt auf größere Beine zu stellen?

Eigentlich bin ich zufrieden mit meiner Unabhängigkeit. Ich kann tun, was ich möchte, bin nicht eingeschränkt, muss mich nicht verpflichtet fühlen, etwas zu einem Gedenktag zu machen. Ich arbeite lieber die restlichen 364 Tage des Jahres. Mit mehr finanziellen Mitteln würde ich die noch nicht so bekannten Ort von Naziverbrechen besuchen und in eine neue Videoform bringen. Also kein Auschwitz, kein Dachau, sondern vielleicht eher Mühldorfer Hart, eben die Entdeckung des Grauens um die Ecke, von dem heute noch keiner weiß.

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