Die schnellste Route von Navigationssystemen wie Google Maps und Co. führt oft durch Wohnstraßen – zulasten der Anwohner. Betroffene und Experten fordern nun eine bessere Zusammenarbeit von Behörden und Konzernen. Wie kann das gelingen?
Der Neuköllner Stadtrat Jochen Biedermann (Grüne) steht kurz vor der Kapitulation, zumindest was den Verkehr angeht. Dass der Durchgangsverkehr in einigen Straßen seines Bezirks allein mit Verkehrsschildern eingedämmt werden kann, glaubt er nicht mehr. Ein Beispiel ist die Weserstraße. Seit Jahren steckt sie in einer Art Dauer-Rush-Hour von ortsfremden Autofahrern.
Biedermanns Schlussfolgerung: „Nach meiner Erfahrung aus den letzten Jahren können wir den Durchgangsverkehr in den Nebenstraßen und Wohngebieten nur mit baulichen Maßnahmen einschränken“. In der Weserstraße geht der Bezirk im Sommer einen radikalen Schritt: Teile der Straße sollen mit Pollern dichtgemacht werden. „Wenn wir den Durchgangsverkehr durch Wohngebiete nicht technisch so unattraktiv machen, dass es tatsächlich einfach ein Mehraufwand und Nerverei für den Autofahrer ist, wird es immer Menschen und Apps geben, die diese Abkürzungen nutzen“, sagt Biedermann.
Verkehr in Deutschland: Routing von Google Maps wird für Anwohner zu Problem
Auch der Neuköllner Anwohner Boris Hekele kennt das Problem. „Unsere kleine Lucy-Lameck-Straße wurde von Hunderten von Autofahren mit Navigations-Apps als Schleichweg benutzt“, sagt er. 4000 Autos schepperten zeitweise nach seiner Zählung über das Kopfsteinpflaster. „Dafür ist sie nicht gedacht. Wir haben hier einen ruhigen gemütlichen Wohnkiez.“
Hekele gründete im vergangenen Jahr mit anderen Bewohnern eine Bürgerinitiative. Inzwischen ist die Straße nur noch für Anlieger frei, was die Lärmbelästigung etwas dämpft. Trotzdem fahren in Hekeles Augen noch zu viele Autos durch die kleine Straße, die es streng genommen nicht dürfen.
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Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem Navigationssysteme wie Google Maps die Fahrzeuge durch Straßen wie die Lucy-Lameck-Straße lotsen. Was für die Autofahrer eine praktische Erleichterung ist, wird für Anwohner zunehmend zur Belastung. Das gilt nicht nur für Berlin, sondern auch deutschlandweit. Das Online-Portal „Unding.de“ der gemeinnützigen Organisation AlgorithmWatch soll Bürgerinnen und Bürgern helfen, Probleme mit Algorithmen zu melden. Darunter fallen auch fehlgeleitete und unerwünschte Autokolonnen in Wohngebieten.
Obwohl das Portal noch in der Test- und Aufbauphase ist, sind seit Frühjahr 2021 schon um die 150 Beschwerdemeldungen zum sogenannten „Navi-Stress“ eingegangen. „Wir nehmen die Beschwerden auf und leiten sie an Anbieter wie Apple Maps oder Google Maps weiter“, sagt AlgorithmWatch-Sprecherin Anna Lena Schiller. „Innerhalb der Fallmeldungen steht der sogenannte ,Navi-Stress‘ an der Spitze“, sagt sie.
Der Informatik-Professor Johannes Schöning von der Universität St. Gallen erforscht die Auswirkungen von Navigationssystemen. „Wir haben die Folgen der Navigations-Algorithmen in mehreren Städten der USA miteinander verglichen und festgestellt, dass die Auswahl einer beispielsweise auf ,Schönheit‘ optimierten Streckenführung den Verkehr in der Nähe von Parks stark erhöht und in bestimmten Fällen dasselbe für einkommensstarke Gebiete bewirkt“, sagt er.
„Sie erhöht außerdem durch die Benutzung von Kreuzungen und Seitenstraßen das Unfallrisiko, weil sie für die Fahrer kognitiv anstrengender sind als eine schnelle Route, die meist auf Autobahnen zurückgreift.“ Ob die vorgeschlagene Route durch ein Wohngebiet mit Kindergarten führt, habe also große Relevanz für Sicherheit und Lebensqualität der Anwohner.
Dass der „Navi-Stress“ nicht nur nervt, sondern offenbar auch die Gesundheit schädigen kann, zeigt eine Studie des Umweltbundesamtes: Die Befragung von 1700 vor allem älteren Menschen in Berlin ergab, dass Bewohner in lauten Wohngebieten häufiger wegen Bluthochdrucks in ärztlicher Behandlung waren als jene in weniger lärmbelasteten Gebieten.
Als mögliche Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung zählen laut Bundesamt neben Gehörschäden Änderungen bei biologischen Risikofaktoren, zum Beispiel bei Blutfetten, Blutzucker und Gerinnungsfaktoren. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Arterienverkalkung, Bluthochdruck und bestimmte Herzkrankheiten, einschließlich Herzinfarkt, können durch Lärm verursacht werden.
„Navis-Stress“: Schweiz könnte Vorbild für Deutschland sein
Um die Wohngebiete zu entlasten, empfiehlt Informatik-Professor Schöning, jede Veränderung in der realen Welt – also etwa neue Einbahnstraßen-Regelungen und „Anlieger frei“-Straßen – sofort in das digitale Abbild auf der Karte in der Navigation zu übertragen. Das setzt allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltungen und Programmierern der Konzerne voraus. „Wir sollten die Kontrolle über die Algorithmen der Verkehrsführung nicht den Unternehmen überlassen, sondern sie individuell auf innerstädtische Verhältnisse anpassen“, sagt Schöning.
Doch bis dahin dürfte es für viele lokale Verwaltungen in Deutschland noch ein langer Weg sein. Ein ganz konkretes Problem, das nicht nur der Neuköllner Boris Hekele hat, sind „Anlieger frei“-Straßen: Sie werden bei vielen Navigationssystemen wie Google Maps nicht gekennzeichnet, Fahrzeuge werden daher trotzdem hindurchgeleitet.
Die Berliner Verkehrsverwaltung verweist auf ein Projekt zum „erweiterten umweltsensitiven Verkehrsmanagement“. „Aktuell besteht hier von uns aus Kontakt zu Google und Here. Ein Prozess zur Vermeidung des belastenden Routings durch Nebenstraßen ist insofern gestartet, steht aber noch am Anfang“, sagt Sprecher Jan Thomsen. „Hier besteht auch ein Interessenkonflikt, weil für Routinganbieter das rasche Anbieten des jeweils schnellsten Wegs, und sei es durch Nebenstraßen, natürlich ein Hauptgeschäft ist.“
Auf Anfrage bei Google Deutschland, wie die Zusammenarbeit zwischen lokalen Behörden und dem Kartenanbieter erfolgt, heißt es, dass „aus Kapazitätsgründen“ kein Experten-Interview angeboten werden könne. Stattdessen gibt es ein Statement von Sprecher Alexander Bressel aus der Konserve: „Die Daten in Google Maps stammen aus einer Vielzahl von Quellen. Darunter kommerzielle Datenunternehmen, öffentlich zugängliche Quellen und in einigen Fällen von Partnern wie lokalen Verwaltungen.“ Ein Ende des „Navi-Stresses“ spielt bei Googles strategischer Streckenplanung offenbar keine große Rolle.
Wie das Problem gelöst werden könnte, zeigt ein Blick in die Schweiz. Dort wird nach einem Gesetzesentwurf nun ein sogenannter „vertrauenswürdiger Datenraum“ erarbeitet. „Ziel ist eine Dateninfrastruktur verschiedenster Anbieter, die von allen genutzt werden kann“, sagt AlgorithmWatch-Sprecherin Schiller. Das Thema müsse aus ihrer Sicht auch in Deutschland größer gedacht werden – nicht nur bilateral zwischen Unternehmen und Kommunen. VOLKER TACKMANN (/les)
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