Keine Sprache hält ewig und Wissen geht verloren: Wie können Generationen noch in Tausenden Jahren vor der Gefahr von Atommüll gewarnt werden? Erstmals arbeitet ein Team in einer Bundesbehörde an Warnungen für die Ewigkeit.
Während Teamleiter in anderen Branchen das Meeting in der kommenden Woche planen oder die Präsentation der nächsten Quartalszahlen, denkt Detlev Möller vorrangig nicht in Monaten und Jahren, sondern in Jahrzehnten, Jahrtausenden und noch längeren Zeiträumen: Er leitet das Fachgebiet F5 beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), die sogenannte „Langzeitdokumentation“. Deren Aufgabe sprengt die menschliche Zeitvorstellung: „Das Standortauswahlgesetz schreibt vor, wie lange Atommüll in Deutschland sicher aufbewahrt werden soll: nämlich für eine Million Jahre“, sagt der Historiker.
Zu der Frage nach dem richtigen Umgang mit hochradioaktiven Substanzen gehört nicht nur die Auswahl eines geeigneten Endlagers, das bis 2031 gefunden sein soll. Sondern es knüpft sich auch das weitreichende Problem an: Welche Botschaften funktionieren in einer Welt, in der die Menschen wahrscheinlich ganz anders kommunizieren und wie können sie gewarnt werden? „Wir müssen davon ausgehen, dass künftige Generationen auf die Endlager aufmerksam werden, sich fragen, was sich dort verbirgt und schlimmstenfalls dort bohren“, sagt Fachgebietsleiter Möller.
Um dieses Problem herum ist die lose Disziplin der Atomsemiotik entstanden, die Lehre von den Zeichen, die noch in Tausenden Generationen vor gefährlichem Atommüll warnen sollen. Denn Sprachen verändern sich laut Sprachwissenschaftlern etwa alle 10.000 Jahre so stark, dass sie keinerlei Wurzeln mehr zu ihrem Ursprung aufweisen. Deshalb setzt die Forschung eher auf Symbole oder Piktogramme statt auf Schriftsprache.
Erstmals beschäftigt sich in Deutschland nun eine staatliche Arbeitsgruppe in einem interdisziplinären Team aus zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit der Aufgabe, Wissen über nukleare Substanzen und Atommüll-Endlager für die Nachwelt zu konservieren: Zum Fachgebiet F5 gehören Archivwissenschaftler, Geologinnen, Historiker, Sprachwissenschaftlerinnen, Software-Entwickler und Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste.
Atommüll in Deutschland: Atomsemiotik mit kuriosen Vorschlägen
Eine Facette der Aufgabe des Teams, das in Berlin und Salzgitter arbeitet, ist das sogenannte „Human Intrusion Scenario“. Es geht davon aus, dass Menschen eines Tages in Lagerstätten eindringen und Atommüll freilegen. In der Abteilung F5 ist es deshalb der Job des Sprach- und Informationswissenschaftlers Benjamin Offen, Warnungen für die Ewigkeit zu entwickeln. Um Botschaften für die Zukunft zu ersinnen, ordnet er die Vergangenheit und die Geschichte der Atomsemiotik seit den 1980er Jahren.
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„Die Ansätze haben sich im Laufe der Zeit stark gewandelt“, sagt Offen. Im Jahr 1984 machte die Arbeitsgruppe „Human Interference Task Force“ im Auftrag der US-Regierung einen Vorschlag für ein mögliches Endlager: An der Erdoberfläche sollte ein Monument aus Stelen und Obelisken ein überdimensioniertes, dreieckiges Warnzeichen für Bio-Gefährdung in die Landschaft zeichnen. Der Entwurf sah Warnungen in diversen Sprachen auf den Obelisken vor, Dokumenten-Tresore sollten Pläne über den Aufbau des Lagers und den Atommüll konservieren. Später ergänzten Forscher dieses Konzept noch um universelle Symbole für Ekel und Panik, die sich an Edvard Munchs berühmtem Bild „Der Schrei“ anlehnen. Andere Vorschläge setzten auf Totenkopf-Symbole oder eine „Landschaft der Dornen“, die künftigen Generationen abschrecken soll.
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„In die Anfangszeit der Atomsemiotik fallen auch sehr kuriose Vorschläge, wie die Etablierung einer Atom-Priesterschaft – einem elitären Zirkel, der die abschreckende Botschaft in seinem Kreis weiterträgt“, sagt Benjamin Offen. In Deutschland veröffentlicht der Sprachwissenschaftler Roland Posner, ehemaliger Leiter der Arbeitsstelle Semiotik an der TU Berlin, im Jahr 1990 den Sammelband „Warnungen an die ferne Zukunft“, in dem Posner einen anderen Ansatz vorschlägt. Das Wissen um die nukleare Gefahr soll nicht einem ausgewählten Kreis vorbehalten bleiben, sondern von einem demokratisch gewählten Rat über die Generationen hinweg weitergetragen werden.
„Während die ersten Entwürfe eher auf Abschreckung setzten, geht es jetzt mehr und mehr darum, künftigen Generationen wichtige Informationen an die Hand zu geben, um ihnen bei Bedarf eigene Entscheidungen im Umgang mit den Hinterlassenschaften zu ermöglichen“, sagt Offen.
Ein erster Schritt: Die Informationen müssen gesammelt werden. Und so beginnt die Fachabteilung F5 mit der großen, atomaren Inventur der Bundesrepublik: Derzeit archiviert das Team zum Beispiel die Unterlagen und Datensätze rund um das Endlager Konrad in Niedersachsen, dem ersten genehmigten Lagerungsort für schwach- und mittelradioaktiven Abfall in Deutschland. Ab dem Jahr 2027 sollen in dem ehemaligen Eisenerzbergwerk mehr als 300.000 Kubikmeter des Strahlenmülls in Behältern eingelagert und einbetoniert werden. Dokumentiert werde zum Beispiel, wie das Grundwasser ströme und wie die Anlage genau aufgebaut sei, sagt Abteilungsleiter Möller.
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„Wir bauen gerade die Infrastruktur auf, um alle relevanten Daten analog und digital zu speichern. Im Wesentlichen geht es um eine kontinuierliche Weitergabe dieser Informationen.“ Rund 15.000 Datensätze und mehrere tausend Akten haben die Fachleute bereits zusammengetragen. Später, wenn das Endlager für hochradioaktiven Müll gefunden ist, soll auch dokumentiert werden, in welchen Kammern, welche Abfälle gelagert sind.
Lösungen werden auch international gesucht
„Bei der Arbeit tauschen wir uns auch international mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus“, sagt Möller. Denn ein solches Projekt könne letztlich vor allem durch gegenseitige internationale Verweise erfolgreich werden. Und so ist die Aufgabe des Fachgebiets F5 auch eine Wette auf die Zukunft, weil sich nicht nur Sprachen, sondern auch Staaten verändern können, wie der promovierte Historiker Möller betont: „Unsere Maßnahmen sind zum großen Teil an den Fortbestand der Bundesrepublik Deutschland geknüpft – auch dieser Fortbestand ist historisch betrachtet aber keine Selbstverständlichkeit.“
Dass es ein internationales Lösungskonzept braucht, geht auch aus dem Abschlussbericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Nuclear Energy Agency aus dem Jahr 2019 hervor: Die Experten beschreiben 35 Ansätze, die möglichst parallel und in mehreren Staaten umgesetzt werden sollen.
„Ein interessantes Konzept sind sogenannte Tsunami-Steintafeln, die Japan – neben technischen Frühwarnsystemen – historisch schon immer für Warnungen vor Flutwellen eingesetzt hat“, sagt Offen. Die beschrifteten Stelen markieren in Küstengebieten, bis wohin Tsunamis rollten und mahnen, Dörfer in höheren Gebieten zu bauen. Einige der Steine sind bis zu 1000 Jahre alt. Untersuchungen zufolge spielten die Tsunami-Steine auch in religiösen Riten eine Rolle „und auch Schulkindern wird ihr Zweck beigebracht“, sagt Offen. „Während früher nur eine Behörde für diese Wissensweitergabe verantwortlich war, wird nun immer mehr auch die Bevölkerung involviert. So kann das Wissen noch weiter in die Zukunft gestreckt werden.“ Übertragen auf das Problem der Atomsemiotik hieße das, dass zum Beispiel im örtlichen Gemeindezentrum ein Raum mit Unterlagen zum Atommüll eingerichtet wird, eine Art Dauerausstellung. Auf diese Weise könnte das Andenken an die Gefahren lebendig gehalten werden, sagt Offen.
„Unsere Arbeit soll zusätzliche Sicherheit bieten. Die eigentliche Sicherheit gewährleistet das Endlager in der Tiefe“, sagt Fachabteilungsleiter Möller. „Es wäre aber vermessen, Garantien für die Ewigkeit abgeben zu wollen. Was wir tun können, ist nach reiflicher Überlegung Botschaften an Menschen in einer fernen Zukunft zu formulieren.“ Ob diese Strategien aufgehen, liegt im Dunkel der Jahrtausende. LEON SCHERFIG
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